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Kunst: Karriere einer Wasserleiche

Mit seiner "Ophelia" schuf John Everett Millais eine Ikone. Die große Millais-Schau in Amsterdam zeigt einen großen Maler der viktorianischen Epoche und Marketing-Künstler.

John Everett Millais liefert bis heute Material für Diskussionen. In den Nachrufen noch als der bedeutendste Maler des 19. Jahrhunderts gepriesen, gerät er im 20. Jahrhundert zunehmend in Vergessenheit. Schon zu seinen Lebzeiten wurde darüber debattiert, ob hier ein Genie sein Talent zugunsten der Kommerzialisierung verspielte. Oder ob gerade darin das Geniale bestand. Nun, 150 Jahre später, fragt das Amsterdamer van Gogh-Museum mit seiner großen Millais-Ausstellung, die zuvor in London zu sehen war, was wirklich dran ist an diesem zweifellos repräsentativsten Künstler des viktorianischen Zeitalters.

Erstmals seit der Retrospektive zwei Jahre nach seinem Tod 1896 ist das ganze Oeuvre zu sehen, nicht nur das Frühwerk mit den berühmten Stücken der Präraffaeliten-Zeit. Gezeigt werden auch die Porträts der Londoner Society, mit denen er sein Vermögen machte, und die späten Landschaften. Wären die drei Werkgruppen in unterschiedliche Ausstellungen separiert, man hielte sie für das Schaffen verschiedener Künstler.

Millais wird wohl immer der Maler der „Ophelia“ bleiben, die sich so hinreißend in den Fluten ertränkt. Noch scheint sie zu leben, Gesicht, Hände und der Brustkorb sind nicht vom Wasser bedeckt. Die um ihren Körper schwimmenden Blumen, das sich aufbauschende Kleid im träge fließenden Gewässer, gerahmt vom dichten Grün des Walds, all das betont den transitorischen Moment, die Märchenhaftigkeit der Szene. Mit diesem 1855 entstandenen Werk schuf Millais eine viktorianische Ikone, malte er das Bild schlechthin des hysterischen Weibs, das in jener Zeit Konjunktur genoss. Und er führt programmatisch die für die Präraffaeliten typische Verbindung aus poetischer Stimmung und Detailversessenheit vor. Jene Gruppe Künstler, die sich 1848 zur „Bruderschaft“ in Millais’ Atelier verband, propagierte die Rückkehr zu den Werten einer wahrhaftigen, naturnahen Malerei, nicht von der Renaissance überformt, wie es sie in der Zeit vor Raffael ihrer Meinung noch gab.

Fünf Jahre zuvor hatte Millais mit seinem Verismus noch die Öffentlichkeit gegen sich aufgebracht. Der rothaarige Knirps Jesus, die verhärmte Muttergottes mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn und ein kahlköpfiger Josef, dessen Hände von schwerer Arbeit gezeichnet sind, in dem Gemälde „Christus im Hause seiner Eltern (Die Schreinerwerkstatt)“ waren dem Publikum zu dicht an der Wirklichkeit. Mit seiner „Ophelia“ aber entwickelte er den erfolgreichen Jungmädchentyp, unter dessen blässlichem Teint und roter Mähne nicht nur der Wahnsinn, sondern auch eine erwachende Sinnlichkeit pulste. Seine „Mariana“, die nach einem Gedicht von Tennyson entstand, und das Bildnis seiner damals vierzehnjährigen Schwägerin Sophie Gray bergen unverhohlen eine Erotik. Millais stand ohnehin unter Verdacht, denn die Ehelichung der Ex-Frau seines langjährigen Förderers John Ruskin galt als der größte Skandal der viktorianischen Zeit.

Diese feinen psychologischen Studien, die Kunst der subtilen Andeutung prädestinierte schließlich für die Bildnismalerei. Bei Millais ließ sich porträtieren, wer auf sich hielt. Seine Galerie der englischen Society ist zugleich ein Panorama der gesellschaftlichen Aufsteiger: kaum höfische Vertreter, aber viele Baumwollhändler aus Manchester und jüdische Bänker, wie der New Yorker Co-Kurator Jason Rosenfeld erklärt. Mit dem Alter verlegte sich der Künstler zunehmendauf Kinderporträts, die noch immer großen Charme besitzen. Allerdings evozierte das Gemälde „Bubbles“ (1886), auf dem sein vierjähriger Enkel versonnen Seifenblasen nachblickt, den anderen großen Skandal seiner Karriere. Ein Jahr später verkaufte er das Copyright an den Seifenhersteller „Pears“, was den wonnigen Knaben zu seinem zweitbekannten Motiv machte und den Maler zum Vorkämpfer für kommerzielle Weiterverwertung werden ließ. Denn immerhin überwachte Millais noch die Druckqualität des ursprünglichen Motivs.

Tatsächlich neu fürs Publikum sind die späten Landschaftsbilder, die Millais in der schottischen Hochebene schuf, wo er sich in den Wintermonaten zum Jagen, Fischen, Malen zurückzog. Hier kommt auch das besondere Interesse des van Gogh-Museums ins Spiel, denn während seines London-Aufenthaltes in den Siebzigern entdeckte der junge Künstler die britische Malerei für sich. In einem Brief von 1882 erwähnt er insbesondere Millais als vorbildlich. Tatsächlich besitzen die schottischen Weiten eine Form der Schichtung , die man mit gutem Willen auch bei van Gogh wiederentdeckt. Nur ist bei Millais immer im Vordergrund ein altes Weiblein, ein Kind mit Milchkanne oder eine weinende verlassene Frau zu sehen. Dem reinen Ausdruck der Landschaft mochte sich der erfolgreiche Gesellschaftsmaler nicht hingeben.

Insofern gelingt auch die Rehabilitierung Millais’ nicht ganz. Man gibt sich dem Schauder, der Schönheit seiner präraffaelitischen Bilder hin, man bewundert die Psychologie und feine Stofflichkeit der Porträts und staunt über den Wechsel zur Landschaftsmalerei, ein kongruentes Oeuvre ergibt sich daraus nicht. Aber ein Werk, das selbstbewusst die Stilwechsel der Postmoderne vorwegnimmt.

Amsterdam, van Gogh-Museum, bis 18. Mai. Katalog 19,95 Euro.

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