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Kunststücke: Füße in der Luft

Claudia Wahjudi schaut fremden Frauen beim Turnen zu - und bei Unfällen im Haushalt.

Wie der Zufall so spielt. Als Asli Sungus einmal Spaghetti kochte, pappten die Nudeln am Topfboden an. Ein andermal vergaß die Künstlerin Scheuermilch auf der Herdplatte, das Putzmittel trocknete in Schlieren an. Sieben solcher „Home Accidents“ zeigt Sungu in der Galerie Lena Brüning (Almstadtstraße 50; bis 17. Oktober). Sie hat die Spuren der Unfälle fotografiert und auf das gleiche Material drucken lassen, auf dem das Missgeschick geschah. Die Schlieren der Scheuermilch sind nun weiße Abstraktion auf Schwarz, der Topfboden mit den Nudelspuren ähnelt der Satellitenaufnahme eines Planeten. Nichts ist, was es scheint, doch mit Surrealismus hat das nichts zu tun. Asli Sungu, die vor neun Jahren aus Istanbul nach Berlin kam, würdigt die Tücken des Alltags in hintersinnigen Objekten. Und wie der Zufall so spielt, zeigt nicht nur Ceal Floyer in den Kunst-Werken gerade Zettel mit Stiftproben, auch Sungu hat solche Blätter in Schreibwarenabteilungen gesammelt. Als Hinterglasfotos sehen sie aus wie Skizzen von Romantikern und Abstrakten. Jeder Kunde ein Künstler. Alle anderen Menschen aber auch: Ein Video zeigt zwei Hände, die stricken oder eine Zitrone schneiden. Nur eine Hand gehört Sungu, die andere einer Verwandten oder Freundin. Das Kunststück, die zweimal fünf Finger aufeinander abzustimmen, verrät viel über die Beziehung der Akteure. Wie auch jenes Foto, auf dem Sungu ihren Kopf in die rechte Hand ihres Vaters fallen lässt. Beredt erzählt die intime Geste von Gefühlen und schweigt sich dennoch diskret aus.

Zwei Männer geben sich die Hand, vier Füße stehen in der Luft, eine Dame in Unterwäsche stützt sich auf Hände und Knie, man weiß nicht: Macht sie Gymnastik, oder wird das hier ein Heimporno? Dutzende solcher meist schwarz-weißen Fotos hat Özlem Altin in der Kreuzberger Galerie Circus arrangiert – auf Wänden, Boden, Tischen, MDF-Platten und hinter Glas. Es sind Kopien, Buchseiten, Postkarten, Pressefotos, Dias, Originalabzüge. Fast alle zeigen Posen und Gesten von Menschen in Situationen, die sich nicht mehr rekonstruieren lassen, von Männern, Kindern, Turnern, Frauen, Urlaubern, Künstlern, Reitern, aber so genau kommt es darauf gar nicht an. Özlem Altin, soeben von Nimwegen nach Berlin gezogen, ordnet die Bilder aus ihrem Archiv jedes Mal neu, und zwar nach formalen Entsprechungen wie Bögen, Parallelen, Winkel, Rauten. So nimmt sie den Abgebildeten jede Individualität, zumal sie unter die Bilder völkerkundliche Porträts sowie Fotos von Vögeln, Affen, Büschen mischt. Ein verstörend surreales Panoptikum, auch wenn Altin ihrem Arrangement mit Übermalungen und Zitaten aus der Weltliteratur eine poetisch zarte Note gegeben hat. Es mag Zufall gewesen sein, wie die Aufnahmen entstanden sind, Zufall, wie sie in Altins Hände kamen. Die Auswahl selbst ist es nicht: Bei Özlem Altin wird der Mensch dem Menschen gänzlich fremd (Obentrautstraße 21, Haus 17; bis 17. Oktober).

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