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Matthias Grünewald

© Katalog

Malerei: Der letzte Schrei

Überlebensbilder eines genialen Koloristen: Karlsruhe und Colmar feiern das Werk des Malers Matthias Grünewald.

Dieser Christus ist ein Alptraum an Wahrhaftigkeit: der Körper von Blessuren übersät, die in allen Blauschattierungen schimmern, das aschfahle Haupt mit dem zur Fratze verzerrten Gesicht tief auf die Brust gesunken, die Finger krampfhaft hochgereckt, die Nagelwunden in den schmerzverkrallten Füßen zu Kratern aufgerissen. Ein kaum erträglicher Anblick. Trotzdem registriert man jedes Detail. Der Schock weicht der Neugierde, auf die Befremden folgt. Wie kann man einen Gekreuzigten mit so viel Realitätssinn malen? Wie kann ein solches Leiden zur „Compassio“, zur Nachfolge Christi animieren?

Tatsächlich ist ein Werk von Matthias Grünewald wie jener 1525 gemalte Tauberbischofsheimer Altar für uns Heutige eine aufregende Zumutung mit seinem Verismus, seiner Überwältigungskraft. Und war es wohl auch damals schon, vor fast 500 Jahren. Erstaunlich, dass der Maler in Vergessenheit geriet, obwohl seine Bilder dem Betrachter nicht mehr aus dem Sinn gehen, hat man sie nur einmal gesehen. Der Isenheimer Altar mit seinem Johannes dem Täufer, der spitzfingrig auf den Gekreuzigten zeigt, die gloriose Himmelfahrt auf der rückwärtigen Seite, bei der Jesus in eine orangerotgelbe Sonne hochjagt – diese Motive haben sich tief ins kollektive Bildergedächtnis eingegraben. Irgendwann ging zumindest der Name des Urhebers verloren. Der für den Antoniterorden zwanzig Kilometer vom heutigen Aufstellungsort Colmar geschaffene Riesenaltar wurde prompt Dürer zugeschrieben. Grünewald, dieser geniale Kolorist, dieser Meistererfinder religiöser Szenografien, existierte nicht mehr.

Grünewald hat es auch nie gegeben, erfährt der perplexe Besucher, der sich in der Karlsruher Ausstellung auf seine Spuren begibt. Grünewald ist ein wohlklingender, aber fiktiver Name, der erstmals in den 1675 erschienenen Künstlerviten des deutschen Vasari, Joachim von Sandrart, auftaucht. Mit Mühe hat die Kunstgeschichte nun diverse Schreibweisen voneinander geschieden. So viel steht fest: Mathis Gothardt Neithardt wurde um 1475/80 geboren, starb 1528 in Halle, arbeitete für den Erzbischof von Mainz, hat als Wasserbauingenieur und Seifensieder gewirkt und sich für die Schriften Luthers interessiert, die sich in seinem Nachlass befanden. Während Dürer noch jede Skizze mit seinem Monogramm markierte und wie Baldung Grien seine Bildideen mittels Kupferstich und Holzdruck in alle Welt katapultierte, hielt sich Grünewald zurück – signierte kaum und ignorierte die neuen Vervielfältigungsmethoden. Sein Metier war die Farbe, für die es damals noch keine Multiplikationsmöglichkeiten gab. Selbst heute gibt es sie für einen Grünewald nicht, wie die überwältigende Begegnung mit dem Original beweist.

Auch die Karlsruher Ausstellung kann den dürren Lebensdaten nichts hinzufügen. Doch sie versucht den Maler mit ihren 160 Werken geistes- und kunstgeschichtlich einzuordnen. Es gelingt ihr grandios. Dürer, Schongauer, Baldung Grien, Altdorfer sind zum Gipfeltreffen angereist, um zugleich seine Singularität zu betonen. Ergänzt werden die Bilder durch Skulpturen, auf diese Weise zeigt sich die Wechselbeziehung zwischen den Medien. Verblüffend die Nähe der Malerei zur Mosbacher Kreuzigungsgruppe aus Lindenholz, die lange als ein Werk Grünewalds galt. Das Beispiel Bodemuseum macht Schule.

„Ein kühnes Unterfangen“ nennt Kurator Dietmar Lüdke das Karlsruher Projekt, denn in der Sammlung befinden sich nur vier Gemälde und eine Zeichnung. Unter Kennern gilt dies als Spitzenzahl. Bei dem schmalen Werk – rund 60 Bilder – steht Karlruhe nach Colmar und dem Berliner Kupferstichkabinett auf Platz drei. Die Trias hat sich zum Gemeinschaftsunternehmen vereint: Karlsruhe zeigt „Grünewald und seine Zeit“, Colmar „Blicke auf ein Meisterwerk“, Berlin folgt im März mit Zeichnungen. So viel Grünewald war nie, so viel Delirieren, Schreien, Schmachten, Leiden.

Wie nahe Grünewald die dargestellte Pein ging, belegt ein um 1520 gezeichnetes Frauenbildnis, das eine Trauernde mit gefalteten Händen zeigt. Das Haupt ist zur Seite geneigt, der Blick verliert sich. Die ganze Körperhaltung drückt tiefe Wehmut aus, seelischen Schmerz, und ist doch ein Inbild von Tapferkeit. Eine grob danebengesetzte Federinschrift aus dem 16. Jahrhundert erklärt mit Besitzerstolz, dass Mathis von Ossenburg (d. h. Aschaffenburg) dieses Werk geschaffen habe.

Doch Grünewald hat den Menschen seiner Zeit nicht nur ins Herz geschaut, sondern auch auf die Kleider. Die plissierten Gewänder der beiden Heiligen vom Heller-Altar, die nach 250 Jahren erstmals wieder mit ihren beiden männlichen Pendants aus Frankfurt zusammengeführt werden, galten damals als der letzte Schrei. Der heutige Betrachter steht staunend vor den aberhundert Abstufungen der Grisaillemalerei, bei der sich unzählige Stofffältchen um die Leiber der heiligen Frauen bauschen, als wären sie nicht steinern grau, sondern in ihrer protobarocken Bewegtheit lebendig geworden.

Wer einmal in Karlsruhe ist, sollte den Weg ins zwei Stunden entfernte Colmar auf sich nehmen – und umgekehrt. Der Isenheimer Altar ist die Apotheose von Grünewalds dezimiertem Werk. Sein von den Schweden geraubter Mainzer Altar versank bei der Überfahrt. Sandrart erwähnt ihn in seinen Künstlerviten, insbesondere einen in Todesangst schreienden Knaben. In Karlsruhe ist die Vorzeichnung seines Kopfes zu sehen, der Betrachter schaut ihm in den Rachen. Das Drama des Überlebenskampfes beginnt von Kindesbeinen an, verkündet noch das Relikt des vernichteten Werks. Die Drastik, mit der Grünewald ihn beschreibt, schenkte den Menschen damals Hoffnung, die Marterdarstellungen des Gekreuzigten galten ihnen als Versprechen auf das Himmelreich. Die heutige Reaktion ist ungläubiges Staunen und Verehrung für einen Maler auf der Höhe seiner Zeit.

Kunsthalle Karlsruhe und Museum Unterlinden Colmar, bis 2. 3. 2008. www. matthias-grunewald.com

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