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Lipschitz

© ddp

Sammlung Scharf-Gerstenberg: Die helle Seite der Nacht

Ein glücklicher Tag für Berlin, ein freudiges Ereignis für die Stadt: Die Sammlung Scharf-Gerstenberg eröffnet im Charlottenburger Stüler-Bau.

Und wieder bekommt dieser an Museen wahrhaftig nicht arme Ort ein neues Haus. Nicht in Mitte, auf der Museumsinsel oder am Schlossplatz, wohin sich bislang die meiste Aufmerksamkeit richtete, sondern in Charlottenburg. Endlich, könnte man meinen. Mit der Sammlung Berggruen besitzt der Standort seit dem Wegzug der Nofretete 2005 ins Alte Museum zwar erneut einen großen Schatz, aber seine Attraktivität hat gelitten. Der Strom des Millionenpublikums brach ab.

Mit dem Einzug der Sammlung ScharfGerstenberg in den östlichen Stülerbau, das einstige Ägyptische Museum, erhält das Quartier einen exquisiten Ersatz, ja definiert sich neu als frankophile Adresse: rechter Hand Berggruen mit der Klassischen Moderne vornehmlich französischer Provenienz, linker Hand Scharf-Gerstenberg mit seinem Schwerpunkt auf den Pariser Surrealisten und im Rücken das Schloss Charlottenburg mit Werken von Watteau und Chardin.

Mit dem Umbau des zweiten Stülerbaus in ein Museum der Moderne arrondiert sich ein Ensemble, und ein gemeinsamer Platz öffnet sich zwischen den bislang separierten Häusern. Die Abgusssammlung, das Naturwissenschaftliche Museum, vis-à-vis das Bröhan-Museum und die Sammlung Berggruen fügen sich zum großen Ganzen. Das Architektenpaar SunderPlassmann hatte nicht nur bei der stadtplanerischen Akzentuierung eine glückliche Hand. Mit seiner gläsernen Eingangshalle, die Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie zitiert, verleiht es dem klassizistischen Stülerbau auch eine markante heutige Note.

Hier passiert etwas, hier begegnen sich Alt und Neu, lautet dieses architektonische Signal. Der Inhalt des Gebäudes, die Sammlung Scharf-Gerstenberg, veranschaulicht genau diesen Transfer zwischen Vergangenheit und Gegenwart in der Kunst. Die 250 Gemälde, Skulpturen und Arbeiten auf Papier beginnen im 18. Jahrhundert bei Piranesi und führen bis zu aktuellen Künstlern. Ein Bilderkosmos eröffnet sich, der in Berlin bislang kaum wahrgenommen wurde; in dieser preußisch-nüchternen Stadt hatten sich Maler wie Menzel, Dix und Grosz immer eher den harten Realitäten zugewandt. Und hier nun die surrealen Welten eines Max Ernst, René Magritte, Salvador Dalí oder Yves Tanguy, die Abgründigkeiten eines Odilon Redon, Victor Hugo, Alfred Kubin und James Ensor.

Eine solche Fokussierung kann sich nur ein Privatsammler erlauben. Ein staatliches Museum muss umfassender akquirieren, die Kunstgeschichte als Ganzes sehen. Es fügt sich glücklich, wenn der Privatmann seinen gehorteten Schatz schließlich der öffentlichen Hand übergibt, wie es Dieter Scharf noch kurz vor seinem Tod entschieden hat. Sein Großvater, Otto Gerstenberg, gehörte um die Jahrhundertwende zu den großen Sammlern Berlins, der für seine Villa im Grunewald bedeutende Impressionisten erwarb. Die Gemälde gingen als Beutekunst nach dem Krieg in den Osten und befinden sich heute in den Museen von Moskau und Sankt Petersburg. Der Enkel Dieter Scharf knüpfte in den sechziger Jahren bei den im Familienbesitz verbliebenen „Carceri“ von Piranesi und den Grafiken von Goya an, die ihn für die sinistre Seite der Kunst bei den Surrealisten sensibilisierten.

Mit dem umgebauten Stülerbau bekommt diese Sammlung ein Gehäuse, das zu ihrem Charakter passt: einerseits intim in den Kabinetten, die sich rund um den zentralen Treppenlauf unter der Kuppel öffnen, denn die meisten Werke sind Papierarbeiten und benötigen keine großen Säle. Die Gemälde der Klassiker Ernst, Magritte, André Masson und Jean Dubuffet aber befinden sich im Marstall, der von den Einbauten befreit wieder zu einer langen, luftigen, von gusseisernen Säulen getragenen Halle wird, in der sich die Bilder allerdings verlieren.

Ein Kuriosum und zugleich ein passendes surreales Element bilden die Relikte aus der Zeit, als Nofretete noch hier residierte. Der eigens für den Sahuré-Tempel gebaute Annex ist nun zum Filmsaal umfunktioniert und zeigt zwischen gigantischen antiken Säulen unter anderem „Un chien andalou“ von Luis Bunuel und Salvador Dalí, ein perfektes Ambiente für ver-rückte Wirklichkeiten. Das Gleiche gilt für das Kalabscha-Tor, das wie der Tempel erst auf die Museumsinsel umziehen wird, wenn der vierte Flügel des Pergamonmuseums vollendet ist. Der Besucher tritt nun durch das 30 v. Chr. erbaute Tor mit seinen altägyptischen Hieroglyphen und wird im Marstall von René Magrittes Gemälde „Gaspard der Nachtwandler“ begrüßt, das einen Falken vor einem Vorhang zeigt, dahinter eine brennende Ruine. Womit wiederum bewiesen ist: Die Künste kommunizieren ohne Übersetzungsprobleme über Jahrtausende hinweg.

Die Sammlung Scharf-Gerstenberg ist für Berlin ein großartiger Gewinn, das ahnte schon, wer sie bei ihrer Ausstellung vor acht Jahren in der Neuen Nationalgalerie kennenlernte. Bei ihrer Präsentation am neuen Platz zeigt sie alles, was sie hat: dicht gedrängt die komplette Piranesi-Serie mit ihren 16 Blatt, allein von Goya 13 „Caprichos“, zwei Säle reich gefüllt mit Werken von Paul Klee, der auch zu Berggruens Hauskünstlern zählt. Max Klingers „Phantasien über einen verlorenen Handschuh“, Edouard Manets grafischer Zyklus „Der Rabe“ nach einem Gedicht von Edgar Allen Poe sowie die großartigen, fast vollends abstrakten Tuschezeichnungen von Victor Hugo leiten schließlich zu den Meistern des Surrealismus über.

Hier kommt auch Hans Bellmer endlich zu seinem Recht, eine Heimkehr wird zelebriert. Die Pariser Surrealisten hatten den Einzelgänger aus Berlin als einen der Ihren zu sich geholt, nachdem sie die skurrilen Fotos seiner in der Karlshorster Abgeschiedenheit konstruierten Künstlerpuppe für sich entdeckt hatten. Auch er füllt fast zwei Säle: Neben zahlreichen Bleistiftzeichnungen, im typischen filigranen Stil, immer an der Grenze zur Pornografie, sind dies vor allem seine Fotografien, darunter auch jenes legendäre Bändchen „Les Jeux de la Poupée“, das Heinz Berggruen als Galerist und Landsmann für ihn herausgegeben hatte. Neben Klee ist dies ein weiterer Gruß über die Schlossstraße hinweg. Und noch ein Berliner erfährt seine Würdigung und harrt der Entdeckung durch das hiesige Publikum: Wols, der wie Bellmer im Pariser Exil verstarb.

Doch so beglückend sich auch der Hinzugewinn der Sammlung Scharf-Gerstenberg für die Staatlichen Museen darstellt, sie ist kein Geschenk, sondern eine Dauerleihgabe zunächst für zehn Jahre, geknüpft an Bedingungen. Die private Stiftung unter Vorsitz der Scharf-Tochter Julietta hat es zur Auflage gemacht, dass die Werke ausgestellt werden und nicht in Depots verschwinden. Zugleich bekräftigte sie ihr Interesse an einem Austausch mit der Neuen Nationalgalerie, ja sie wünscht sich Sonderausstellungen zu einzelnen Künstlern. Der neueste und auch letzte Coup von Generaldirektor Peter-Klaus Schuster, der im November seinen Abschied nimmt, zeigt die Problematik seiner auf die Formel „Wir sammeln Sammler“ gebrachten Erwerbungspolitik. Ungesagt bleibt dabei, dass man sich die eigenen Ankäufe damit spart. Zwar profitieren die Staatlichen Museen wie bei Marx, Flick, Marzona und Berggruen, doch unterwerfen sie sich dem Geschmack eines Einzelnen, zumal wenn der Sammler auf einer separaten Präsentation besteht.

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz eröffnet beglückt Haus um Haus, ob auf der Museumsinsel oder in Charlottenburg, nur die Etats für Personal und Unterhalt werden nicht aufgestockt, sondern heruntergefahren. So eigenwillig, anregend und exquisit die Scharf-Gerstenbergschen „surrealen Welten“ auch sind, für ein eigenes Museum wirken sie allzu speziell. Anders als eine Nofretete werden sie die Besuchermassen kaum anziehen; Liebhaber wird das Sammlermuseum jedoch gerade deshalb locken.

Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schlossstr. 70, Di - So 10 - 18 Uhr. Katalog (Nicolai) 59 Euro. Heute freier Eintritt.

Vin Nicola Kuhn

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