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Schlagerparade: Schöne heile Welt

Willkommen in der Mitklatschhölle: Eine Leipziger Ausstellung feiert 100 Jahre Schlagergeschichte.

Funkelnd bricht sich das Licht auf dem plexiglasverkleideten Konzertflügel, der auf einer Bühne thront. Das Instrument, gewissermaßen ein Mercedes 600 der deutschen Showbranche, strahlt Luxus und Selbstbewusstsein aus. Durchsichtig ist das Plexiglas, weiß der Bademantel, der wie hingeworfen auf dem Klavierschemel liegt, als sei sein Besitzer nur auf einen Sprung verschwunden. Udo Jürgens, der seine Zugaben im intimen Badezimmertextil zu geben pflegt, fehlt, aber seine Aura scheint noch in der Luft zu hängen, zusammen mit einem Klangbrei aus „Biene Maja“, „Tanze Samba mit mir“ und „Nathalie“.

Hinter dem Schimmel-Flügel hängen Schwarz-Weiß-Porträts von Dieter Thomas Heck und Heinz Schenk an der Wand sowie die auf 19.31 eingerastete Fernsehstudiouhr des – so „Hitparaden“-Heck – „Zett-Deh-Efff“. Gegenüber: Caterina Valentes Gitarre, Paillettenkleider der Kessler-Zwillinge und ein lilafarbenes Samtjackett von Michael Holm. Geradezu sinnbildhaft ist damit im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig alles versammelt, was den deutschen Schlager ausmacht: Modernismus und Glamour, die milde Exzentrik und die Mitklatschhölle verblichener TV-Shows. „Melodien für Millionen“ heißt die Ausstellung, die – laut Untertitel – „das Jahrhundert des Schlagers“ schildern möchte. Aufgeboten werden mehr als 1500 Ausstellungsstücke vom Rex-Gildo-Titelbild der „Bravo“ bis zur Kneipen-Jukebox der Marke „Panoramic 200“. Es ist die bislang größte Materialschlacht zur Rehabilitierung eines Genres, über das bis heute gern gespottet wird.

„In einem unbekannten Land, vor gar nicht allzu langer Zeit“: Mit Karel Gotts Worten ließe sich eine Ausstellung vorstellen, die etwas ironisch und sehr sentimental auf ein abgeschlossenes Stück Kulturgeschichte zurückblickt. „Es geht in hohem Maße um Emotionen“, sagt Projektleiter Hanno Sowade. Die Ausstellungsarchitektur, entworfen vom Berliner id3d-Büro, ähnelt einem labyrinthischen Weg durch Zeiten und Themen, vorbei an Showbühnen, Künstlergarderoben und schaufenstergroßen Vitrinen. Hörinseln stehen bereit, auf denen die Besucher per Touchscreen-Monitor eine Auswahl aus 1000 Titeln treffen können. Ein paar Takte genügen, und mit „Geh nicht vorbei“ von Christian Anders oder Alexandras „Sehnsucht“ beginnt die Reise in die Erinnerung.

In Bonn, wo „Melodien für Millionen“ im Sommer zu sehen war, war die Schau enorm erfolgreich. 150 000 Besucher kamen ins Haus der Geschichte. Der Schlager, das ist eine These der Ausstellung, ist nicht tot. Es geht ihm wieder ziemlich gut. In einem Raum werden die deutschen Charts-Platzierungen seit 1956 gezeigt. Bis Mitte der sechziger Jahre war die Hitparade fest in deutscher Hand, dann begann mit dem Siegeszug der Beatles und der Stones die Krise. In den neunziger Jahren dominieren internationale Titel, seit 2003 und dem Erfolg von Yvonne Catterfeld, Tokio Hotel und Rosenstolz steigt der Anteil deutscher Produktionen wieder. Der größte Hit des Jahres 2007 war DJ Ötzis Techno-Schlager „Ein Stern“, gefolgt von Nelly Furtado und Rihanna.

„Schlager ist kurzweilige, schöne Musik, die mich für einen Moment glücklich macht“, sagt Dieter Thomas Heck, der für das Begleitbuch interviewt wurde. Ähnlich schlicht definieren die Kuratoren den Begriff, für sie ist der Schlager ein „deutschsprachiges, kommerziell erfolgreiches populäres Lied“. Die Ausstellung beginnt scheppernd und zirpend, mit der Spieldosenmelodie „Das liegt bei uns im Blut“ und dem „Glühwürmchen-Idyll“ von Paul Lincke, zu dem in Gartenlokalen der Kaiserzeit getanzt wurde.

Schlagergeschichte als Technikgeschichte. In den zwanziger Jahren entwickelt sich eine expandierende Unterhaltungsindustrie. 1929 werden in Deutschland 30 Millionen Schellack-Platten verkauft, 1933 stehen 5,4 Millionen Radiogeräte in den Wohnstuben. Die Nationalsozialisten spannen den Schlager für ihre Zwecke ein, mit Propagandatiteln wie „Bomben auf Engeland“ und Ablenkungs- oder Durchhaltehits wie „Wir machen Musik“ und „Davon geht die Welt nicht unter“. Ein Foto zeigt eine sonnenbebrillte Zarah Leander neben Goebbels. Ihr Film „Die große Liebe“, für den Michael Jary und Bruno Balz den Hoffnungshit „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ schrieben, findet 1942/43 sagenhafte 25 Millionen Zuschauer.

Das eigentliche Schlagerwunder ereignet sich in den fünfziger Jahren – mit einer Musik, in der die heile Welt, ein Alltag ohne Trümmer und Traumata, beschworen wird. Peter Alexander singt „Melodien zum Verlieben“, mit den „zwei kleinen Italienern“ von Conny Froboess träumen sich die Deutschen in den Urlaub, der „Itsy Bitsy Teenie Weenie Honolulu-Strand-Bikini“ markiert ein Maximum an Anzüglichkeit. Alles Frivolere wird abgedrängt in Nischen, wo Helen Vita „freche Chansons aus dem alten Frankreich“ zum Besten gibt und eine Schwabinger Wirtin namens Gisela mit „Der Novak“ einem Zuhälter ein Denkmal setzt. Ihre Platte wird mit einer abschließbaren Hülle ausgeliefert.

Am stärksten ist die Ausstellung dort, wo Musik- und Zeitgeschichte einander kreuzen. Fiepend zerschreddert ein Störsender die Hammondorgel-Akkorde von Michael Holms „Mendocino“ aus einer Rias-Sendung. Bereits früh erkennt die SED-Führung das Gefahrenpotenzial des Schlagers. 1958 wird die sogenannte „60/40-Regel“ eingeführt, nach der in Unterhaltungsprogrammen nur noch 40 Prozent westliche Titel gespielt werden dürfen. Ein Jahr später folgt die Erfindung des Kunsttanzes „Lipsi“, der Boogie-Woogie und Rock ’n’ Roll trotzen soll. „Beachten Sie besonders, wie die Füße aufgesetzt werden“, erläutert das Fachmagazin „Melodie und Rhythmus“: „Auf der Innenseite des Ballens.“

Im September 1989 intoniert Frank Schöbel in der hundertsten Folge der Fernsehshow „Ein Kessel Buntes“ den vorgezogenen Abgesang auf das System: „Wir brauchen keine Lügen mehr.“ Schöbel gehörte zu den DDR-Stars, die im Westen auftreten durften. Die Ausstellung zeigt eine Uhr, die ihm seine Plattenfirma schenkte, als er mit „Wie ein Stern“ eine Goldene Schallplatte verpasste. Frank Zanders Sonnenbrille, eine Lederhose des Trompeters Stefan Mross und ein Yamaha-Synthesizer, umzuhängen wie eine Gitarre, von der Münchner Freiheit: In der jüngeren Schlagergeschichte hat sich eine Menge Krempel angesammelt. Vom größten Triumph eines deutschen Liedes künden eine weiße Gitarre und ein schwarzes, perlenbesticktes Kleid. So warb Nicole für „Ein bisschen Frieden“, als sie 1982 den Grand Prix gewann.

Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, bis 19. April. Di–Fr 9–18, Sa/So 10–18 Uhr.

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