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Wille trifft Wahnsinn: Die aufregenden Skulpturen von Jean-Antoine Houdon

Was für ein wunderschöner Skandal. Das untergründige Beben, das Rütteln an ästhetischen und moralischen Normen, ausgelöst von dieser stillen, in sich gekehrten Figur, ist noch nach 220 Jahren spürbar.

Jean-Antoine Houdon schuf mit der „Frileuse“, der „Fröstelnden“, eine der berühmtesten Skulpturen des 18. Jahrhunderts. Ein Mädchen, beinahe nackt, die angewinkelten Beine schamhaft zusammengepresst, die Arme über der Brust verschränkt, den Blick gesenkt. Einziges Kleidungsstück der 1783 entstandenen Marmorfigur, der vier Jahre später eine Version in Bronze folgt: ein um Kopf und Schultern geschlungenes Tuch, dessen Ende die Scham gerade bedeckt und das am Rücken kurz über dem Po aufhört.

Houdons Zeitgenossen haben sich über Pose und Drapierung der „Frileuse“ nicht nur erregt, sondern auch aufgeregt. Tout Paris fand die junge Schöne, die vorgab, eine Personifikation des Winters zu sein – doch zugleich und im Wortsinn unverhüllt ein „gefallenes“ Mädchen darstellte, das seine Unschuld verloren hatte –, entschieden zu anstößig.

Das Frankfurter Liebieghaus widmet seine Jubiläumsausstellung zum 100. Geburtstag keinem Blockbuster der modernen Skulptur wie Rodin oder Brancusi, sondern einem Künstler für Kenner. Houdon gilt hierzulande noch immer als Geheimtipp, obwohl er in Frankreich zu den Superstars der Kunstgeschichte gehört. Und zudem der erste Bildhauer Europas war, der 1785 in die USA reiste. Er sollte dort den künftigen Präsidenten George Washington porträtieren. Die große Houdon-Retrospektive von 2003/2004 war nicht nur in Versailles, sondern auch in der Washingtoner National Gallery und dem Getty Museum in Los Angeles ein Riesenerfolg.

Nun also Houdon im Liebieghaus. 40 Katalognummern reichen den beiden Kuratoren Maraike Bückling, Klassizismusexpertin des Frankfurter Skulpturenmuseums, und Guilhem Scherf, Oberkustos am Louvre, völlig aus. Houdon wird mit Hauptwerken vorgestellt und in den Kontext der ebenso material- wie geistreichen französischen Bildhauerkunst und Kunstkritik des ancien régime eingebettet. Ihr Konzept steht exemplarisch für eine Museumspolitik, die sich auf kompetente Mitarbeiter verlässt und Kooperationen sucht, statt bequem Gastausstellungen einzukaufen.

Frankfurts Museumsmacher Max Hollein, der im benachbarten Städel demnächst eine große Botticelli-Ausstellung eröffnen kann, nennt Houdon lapidar „den faszinierendsten Bildhauer der Aufklärung“. Als Beweismittel dienen vier kapitale Leihgaben, ohne die die Jubiläumspräsentation nicht stattgefunden hätte. Neben der in nur einem Abguss bekannten Bronzefassung der „Frileuse“ aus dem New Yorker Metropolitan Museum sind das die einzige erhaltene Marmorfassung der Fröstelnden und ihr Pendant, „Der Sommer“, sowie die knapp 20 Zentimeter hohe Entwurfsstudie der „Frileuse“ aus Terrakotta.

In Frankfurt loten die „Frileuse“, auch „Der Winter“ genannt, und das Pendant „Der Sommer“ Tradition und Revolution in Houdons Kunst aus. Die Ikonografie der Jahreszeiten reicht bis in die Antike zurück, ihre allegorische Aufladung mit gelehrten Attributen und erotischen Anspielungen erlebte im höfischen Geplänkel von Barock und Rokoko ihren Abschluss. Houdons Freund Denis Diderot, Schriftsteller, Aufklärer und Kritiker, forderte von der neuen bürgerlichen Kunst, dass sie auch von literarisch und historisch Ungebildeten verstanden werden müsse. Einfühlung hieß nun die Devise. Weg mit den Attributen.

Houdon hat seinen „Sommer“, eine junge Frau, mit verwirrend vielen Attributen ausgestattet: Blumen, Ähren, Weintrauben, Tamburin und Gießkanne stehen für weibliche und männliche Erotik. Der Marmorfassung der „Frileuse“ reicht eine einzige Zugabe: eine antike Vase, die durch das darin gefrorene Wasser zerbrochen ist. Der zerbrochene Krug, siehe Kleists gleichnamiges Lustspiel, steht für verlorene Unschuld. Houdons Fingerzeig war überdeutlich, in der später entstandenen Bronzefassung verzichtete er auf den Krug.

Wie These und Antithese beziehen sich „Sommer“ und „Winter“, die für die Bibliothek eines Pariser Adelspalais bestimmt waren, aufeinander: hier die geschwätzige, doch anspielungsreiche Allegorie, dort das moderne Gefühls- und Identifikationsangebot. Houdon, der bevorzugte Bildhauer von König Louis XVI., konnte es sich leisten, eine fast lebensgroße Skulptur wie den „Sommer“ zu schaffen, damit ihr Pendant umso moderner strahlt. Den Juroren des Salons, der alle zwei Jahre stattfindenden Ausstellung der Pariser Akademie, war das zu viel Dialektik, beide Skulpturen wurden zurückgewiesen. Houdon hat sie dennoch zur Diskussion gestellt – in seinem Atelier im Louvre, wo sich Kunstliebhaber aus aller Welt trafen.

Mit der Feststellung, er sei der „erste Bildhauer der Welt“, hatte Thomas Jefferson, damals Pariser Gesandter der um die Unabhängigkeit ringenden Amerikaner, Houdon an George Washington empfohlen. Houdons internationaler Ruhm und kommerzieller Erfolg beruhten nicht zuletzt auf den Porträtbüsten prominenter Zeitgenossen – vom zahnlosen Voltaire bis zu Prinz Heinrich von Preußen, dem enfant terrible aus Rheinsberg. Sie wurden an zahlreichen Höfen Europas geschätzt und gesammelt. Selbst Napoleon hat der alternde Houdon noch in Ton modelliert und in Marmor verewigt – mit stechendem Blick und genial zerstrubbeltem Haar. Wille trifft Wahnsinn. Treffender hätten das Promifotografen wie Richard Avedon oder Annie Leibovitz auch nicht hinbekommen.

Liebieghaus, Frankfurt/Main, Schaumainkai 71, bis 28. Februar. Der Katalog (Hirmer Verlag) kostet 34,90 Euro.

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