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Kultur: Auszüge aus der Nobel-Vorlesung von Günter Grass

Verehrte Mitglieder der Schwedischen Akademie, meine Damen und Herren!Mit dieser Ankündigung zogen sich im neunzehnten Jahrhundert Prosawerke in die Länge.

Verehrte Mitglieder der Schwedischen Akademie, meine Damen und Herren!

Mit dieser Ankündigung zogen sich im neunzehnten Jahrhundert Prosawerke in die Länge. Unterm Strich boten Journale und Wochenblätter Platz. Der Fortsetzungsromna stand in Blüte. Während in rascher Folge Kapitel nach Kapitel schwarz auf weiß gedruckt wurde, war der Mittelteil der Erzählung gerade erst handschriftlich zu Papier gekommen, der Schlussteil noch nicht ausgedacht. Doch hielten nicht nur triviale Schauergeschichten und herzergreifende Passionen den Leser in Bann. Etliche Dickens-Romane sind so, in Häppchen, erschienen. Tolstois "Anna Karenina" war ein Fortsetzungsroman. Balzacs Zeit als fleißiger Zulieferer für fortgesetzte Massenware mag ihn, noch namenlos, die Technik erhöhter Spannung, knapp vor dem Abbruch der Spalte, gelehrt haben. Und auch fast alle Fontane-Romane sind zuerst in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt worden, zum Beispiel "Irrungen, Wirrungen", auf dass der Besitzer der "Vossischen Zeitung" empört ausrief: "Will denn diese Hurengeschichte nicht endlich aufhören!"

Doch bevor ich den Faden meiner Rede dergestalt weiterspinne, soll erwähnt werden, dass mir, rein literarisch gesichtet, dieser Saal und die einladende Schwedische Akademie nicht fremd sind. In meinem Roman "Die Rättin" wird in Stockholm eine Laudatio vor vergleichbar gemischter Gesellschaft gehalten, die der Ratte, genauer gesagt der Laborratte, gewidmet ist. Sie hat den Nobelpreis erhalten. Sie, vor allen anderen sie - das behauptet der Erzähler in meinem Roman -, hat all die nobelierten Forschungen und Erfindungen auf dem Gebiet der Medizin und was die Entdeckungen der Nobelpreisträger Watson und Crick betrifft, möglich gemacht. Seitdem darf mehr oder minder legal geklont werden. Da aber diesem Erzählstrang ein "Fortsetzung folgt..." offen stand und die Nobelpreisrede auf die Laborratte nicht etwa als heiteres Schlussstück den Roman beschließt, kann ich mich nun grundsätzlich dem Erzählen als Überlebens- und Kunstform zuwenden.

Wie gut, dass uns Bücher genug zur Hand sind, die, leise wie laut gelesen, Bestand haben. Sie waren mir beispielhaft. Meister wie Melville oder Döblin, aber auch Luthers Bibeldeutsch, haben mich, als ich jung und belehrbar war, angestoßen, vor mich hin sprechend zu schreiben, die Tinte mit der Spucke zu mischen. Und dabei ist es geblieben. Bis ins fünfte Jahrzehnt meiner lustvoll ertragenen Schreibfron kaue ich zähfaserige Satzgefüge zu fügsamem Brei, brabbel in schönster Schreibeinsamkeit vor mich hin und lasse nur zu Papier kommen, was auch gesprochen seine wechselnde Tonlage gefunden, Hall und Echo bewiesen hat. Doch wie wurde ich Schriftsteller, Dichter, Zeichner - und alles zugleich auf erschreckend weißem Papier?Ich war etwa zwölf Jahre alt, als für mich feststand, Künstler werden zu wollen. Das war, als bei uns zu Hause, ganz nahe dem Vorort Danzig-Langfuhr, der Zweite Weltkrieg begann.

Wegelagerer und Raubritter

Die fachliche Spezialisierung in Richtung Dichter bildete sich erst im folgenden Kriegsjahr aus, als mir in der Zeitschrift der Hitlerjugend "Hilf mit!" ein verlockendes Angebot gemacht wurde: Ein Erzählwettbewerb stand ausgeschrieben. Preise wurden versprochen. Und sogleich begann ich meinen ersten Roman in ein Diarium zu schreiben. Er trug, beeinflusst durch den familären Hintergrund meiner Mutter, den Titel "Die Kaschuben", spielte aber nicht in der dem verschwindend kleinen Kaschubenvolk wieder einmal schmerzlichen Gegenwart, sondern im dreizehnten Jahrhundert, zur Zeit des Interregnums, der kaiserlosen, der schrecklichen Zeit, in der Wegelagerer und Raubritter Straßen und Brücken beherrschten und sich die Bauern nur durch durch Femegerichte zu helfen wußten.

Der Lieblingscousin meiner Mutter, wie sie kaschubischer Herkunft, war im Freistaat Danzig Beamter der polnischen Post. Er ging bei uns ein und aus, war gerngesehener Besuch. Als bei Kriegsbeginn das Postgebäude am Heveliusplatz gegen den Ansturm der SS-Heimwehr eine Zeitlang verteidigt wurde, gehörte mein Onkel zu den Kapitulierenden, die alle standrechtlich verurteilt und erschossen worden sind. Plötzlich fehlte dieser Onkel. Plötzlich und anhaltend sprach man nicht mehr von ihm. Er blieb ausgespart. Doch indem er wie weg war, muss er sich bei mir festgesetzt haben, unbemerkt über Jahre hinweg, in denen ich mit fünfzehn in Uniform steckte, mit sechzehn mich zu fürchten lernte, mit siebzehn in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet, mit achtzehn in Freiheit und als Schwarzhändler tätig war, schließlich den Beruf des Steinmetz und Steinbildhauers lernte, mich auf Kunstakademien übte, schrieb und zeichnete, zeichnete und schrieb, leichtfüßige Verse, windgeblasen, skurrile Einakter. Das ging so fort, bis mir, dem das ästhetische Vergnügen wie eingeboren war, eine Stoffmasse sperrig wurde. Und unter ihrem Geröll lag der Lieblingscousin meiner Mutter, der erschossene polnische Postbeamte, begraben, um von mir - von wem sonst? - gefunden, ausgebuddelt zu werden, auf dass er unter anderem Namen und in anderer Gestalt mittels Erzählbeatmung wieder zum Leben erweckt wurde.

Mit der Veröffentlichung meiner ersten beiden Romane "Die Blechtrommel" und "Hundejahre" und der dazwischengeschobenen Novelle "Katz und Maus" lernte ich früh, als immer noch relativ junger Schriftsteller, dass Bücher Anstoß erregen, Wut, Hass freisetzen können. Was aus Liebe dem eigenen Land zugemutet ward, wurde als Nestbeschmutzung gelesen. Seitdem gelte ich als umstritten. Dabei befinde ich mich, was nach Sibirien oder sonstwohin verwünschte Schriftsteller betrifft, in guter Gesellschaft.

Schweigegebot und Schlimmeres

Was jedoch macht Bücher und mit ihnen Schriftsteller dergestalt gefährlich, dass Staat und Kirche, Medienkonzerne und Politbüros sich zu Gegenmaßnahmen gezwungen sehen? Selten sind es direkte Verstöße gegen die jeweils herrschende Ideologie, denen Schweigegebot und Schlimmeres folgen. Oft reicht der literarische Nachweis, dass die Wahrheit nur im Plural existiert - wie es ja auch nicht nur eine Wirklichkeit, sondern eine Vielzahl von Wirklichkeiten gibt -, um einen solch erzählerischen Befund als Gefahr zu werten, als eine tödliche für die jeweiligen Hüter der einen und einzigen Wahrheit. Auch dass Schriftsteller - was ihres Berufes ist - die Vergangenheit nicht ruhen lassen können, zu schnell vernarbte Wunden aufreißen, in versiegelten Kellern Leichen ausgraben, verbotene Zimmer betreten, heilige Kühe verspeisen oder wie Jonathan Swift es getan hat, irische Kinder als Rostbraten der herrschaftlich englischen Küche empfehlen, ihnen also generell nichts, selbst nicht der Kapitalismus heilig ist, all das macht sie anrüchig, strafwürdig. Ihr schlimmstes Vergehen jedoch bleibt, dass sie sich in ihren Büchern nicht mit den jeweiligen Siegern im historischen Verlauf gemein machen wollen, sich vielmehr dort mit Vergnügen herumtreiben, wo die Verlierer geschichtlicher Prozesse am Rande stehen, zwar viel zu erzählen hätten, doch nicht zu Wort kommen.

Und wo bleibt der Humor?

Als Heinrich Böll am 2. Mai 1973 hier seine Nobelvorlesung hielt, in der er die so gegensätzlich anmutenden Positionen Vernunft und Poesie in immer enger führender Umkreisung zur Konfrontation brachte, beklagte er mit letztem Satz seiner Rede ein Versäumnis aus Zeitgründen: "Übergehen musste ich den Humor, der auch kein Klassenprivileg ist und doch ignoriert wird in seiner Poesie und als Versteck des Widerstands." Nun, Heinrich Böll wußte, wie seitab und kaum noch gelesen Jean Paul im Panoptikum deutscher Geistesgrößen seinen Platz hat, wie sehr Thomas Manns literarisches Werk, damals aus rechter wie linker Sicht, unter Ironieverdacht stand; und ich ergänze: heute noch steht. Böll meinte gewiss nicht den gängigen Schmunzelhumor, wohl aber das unhörbare Lachen zwischen den Zeilen, die chronische Traueranfälligkeit seines Clowns, die verzweifelte Komik jenes Sammlers, der das Schweigen archivierte.

Zu Beginn der fünfziger Jahre, als ich bewusst zu schreiben begonnen hatte, war Heinrich Böll bereits ein bekannter, wenn auch nicht anerkannter Autor. Mit Wolfgang Koeppen, Günter Eich und Arno Schmidt stand er abseits des damals restaurativen Kulturbetriebs. Die noch junge Nachkriegsliteratur tat sich schwer mit der deutschen Sprache, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus korrumpiert worden war. Zudem stand Bölls Generation, aber auch den jüngeren Autoren, zu denen ich mich zählte, ein Satz von Theodor Adorno als Verbotstafel im Wege. Ich zitiere:" Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben..."

Also kein "Forsetzung folgt..." mehr. Nun, wir haben dennoch geschrieben. Freilich, indem wir - wie Adorno in seinem Buch von 1951, "Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben" - Auschwitz als Zäsur und unheilbaren Bruch der Zivilisationsgeschichte begreifen mussten. Nur so war diese Verbotstafel zu umgehen. Und doch ist das von Adorno gesetzte Menetekel bis heute wirksam geblieben. An ihm haben sich die Autoren meiner Generation in erklärter Abwehr gerieben. Schweigen wollte, konnte keiner. Jeder Schriftsteller ist in seine Zeit hinein geboren, er mag noch so heftig beteuern, zu früh oder zu spät gekommen zu sein. Aus deutscher Geschichtsträchtigkeit geworfen, lagen Trümmer- und Kadaverberge zuhauf. Diese Stoffmasse, die sich, indem ich sie abzutragen begann, vergrößerte, war nicht wegzublinzeln. Zudem komme ich aus einer Flüchtlingsfamilie. Deshalb hat sich zu allem, was einen Schriftsteller von Buch zu Buch antreiben mag - üblicher Ehrgeiz, Furcht vor Langeweile, das Triebwerk der Egozentrik -, die Gewissheit vom unwiederbringlichen Verlust der Heimat als anstiftende Kraft bewiesen. Erzählend sollte die zerstörte, verlorene Stadt Danzig, nein, nicht zurückgewonnen, jedoch beschworen werden. Diese Schreibobsession hat mich angestachelt.

Wohltat und Anlass zum Wehgeschrei

Wie der Nobelpreis, sobald wir ihn aller Feierlichkeit entkleiden, auf der Entdeckung von Dynamit fußt, das wie andere menschliche Kopfgeburten - sei es die Spaltung der Atome, sei es die gleichfalls nobelierte Aufschlüsselung der Gene - das Wohl und das Wehe in die Welt gesetzt hat, so beweist die Literatur ihrerseits Sprengkraft, wenngleich die von ihr ausgelösten Explosionen verzögert, sozusagen in Zeitlupe zum Ereignis werden und die Welt verändern: gleichfalls als Wohltat und Anlass zum Wehgeschrei für das Menschengeschlecht. Wie viel Zeit hat der Prozess der europäischen Aufklärung von Montaigne über Voltaire, Diderot, Kant, Lessing und Lichtenberg benötigt, um die Funzel der Vernunft in die finstersten Winkel scholastischer Verdunkelung zu tragen. Heute sehen wir, wohin es der Aufklärung genial mißratene Kinder gebracht haben. Sicher, wir versuchen mit den Mitteln der Aufklärung - denn andere haben wir nicht - den Schaden zu beheben.- Entsetzt sehen wir, dass der Kapitalismus, seitdem sein Bruder, der Sozialismus, für tot erklärt wurde, dem größenwahn bewegt ist und sich ungehemmt auszutoben begonnen hat. Er wiederholt die Fehler seines totgesagten Bruders, indem er sich dogmatisiert, die freie Marktwirtschaft als einzige Wahrheit ausgibt, von seinen schier unbegrenzten Möglichkeiten berauscht ist und verrückt spielt, das heißt, weltweit Fusionen betreibt, die einzig den Profit maximieren. Kein Wunder, dass sich der Kapitalismus, wie der an sich selbst erstickte Kommunismus, als reformfähig erweist. Globalisierung heißt sein Diktat. Und wieder einmal wird mit dem Dünkel der Unfehlbarkeit behauptet, dazu gäbe es keine Alternative.

Ich schlage noch einmal den Roman "Die Rättin" auf, in dessen fünftem Kapitel konjunktivistisch die Verleihung des Nobelpreises an die Laborratte, stellvertretend für Millionen anderer Versuchstiere im Dienst der forschenden Wissenschaft, erwogen wird. Und sogleich wird mir deutlich, wie wenig bisher alle preisgekrönten Verdienste geeignet waren, die Geißel der Menschheit, den Hunger, aus der Welt zu schaffen.

1973, damals, als in Chile, gestützt auf das tätige Wohlwollen der USA, der Terror zuschlug, hielt als erster deutscher Bundeskanzler Willy Brandt seine Antrittsrede vor den Vereinten Nationen. Er kam auf die weltweite Verelendung zu sprechen. Sein Ausruf "Auch Hunger ist Krieg"! wirkte so überzeugend, dass ihn kurzerhand Beifall erschlug. Ich war dabei, als diese Rede gehalten wurde. Zu jener Zeit schrieb ich an meinem Roman "Der Butt", in dem es um die primäre Grundlage menschlicher Existenz, um die Ernährung, also um Mangel und Überfluss, um große Fresser und ungezählte Hungerleider, um des Gaumens Freude und um die Brotrinden vom Tisch der Reichen geht. Diese Thema ist uns geblieben. Der reiche Norden und Westen mag sich noch so sicherheitssüchtig abschirmen und als Festung gegen den armen Süden behaupten wollen; die Flüchtlingsströme werden ihn dennoch erreichen, dem Andrang der Hungernden wird kein Riegel stanghalten. Davon wird in Zukunft zu erzählen sein. Und selbst wenn eines Tages nicht mehr geschrieben und gedruckt werden wird oder darf, wenn Bücher als Überlebensmittel nicht mehr zu haben sind, wird es Erzähler geben, die uns von Mund zu Ohr beamtmen, indem sie die alten Geschichten aufs neue zu Fäden spinnen: laut und leise, hechelnd und verzögert, manchmal dem Lachen, manchmal dem Weinen nahe.Günter Grass hielt seine Vorlesung am Dienstagabend in der Schwedischen Akademie in Stockholm. Das Copyright liegt bei der Nobel Foundation.

Günter Grass hielt seine Vorlesung am Diensta

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