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Stoffwechselkraftwerk. Die Leber des Menschen, situiert unter dem rechten Rippenbogen. Foto: SciencePhotoLibrary

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Autobiografisches Schreiben: Nie mehr allein

Ein Jahr im Kranken- und Geschichtenhaus: Der Schriftsteller David Wagner erzählt in "Leben" von seiner Lebertransplantation.

Einmal unterhält sich David Wagner mit einem seiner Bettnachbarn im Krankenzimmer der Abwechslung halber nicht über das jeweilige Leiden, sondern über Fußball. Über die bald beginnende neue Bundesligasaison, über die Chancen bestimmter Vereine. „Fußballgesprächsbausteine“ seien das, findet Wagner, „vorgefertigt, austauschbar, es sind seit Jahren die gleichen.“ Und doch ist er zwischendrin ganz verblüfft, als ihm beim Fußballfachsimpeln wie nebenbei einfällt: „Es gibt die Gegenwart noch, ich vergesse das manchmal.“

Der Grund für diese Zeitvergessen- und -verlorenheit: Wagner verbringt weit über ein Jahr lang zahlreiche Tage und Nächte im Krankenhaus und später in einer Reha-Klinik. Infolge einer seit der Kindheit bestehenden Autoimmunhepatitis ist seine Leber nicht mehr funktionstüchtig, ihm soll eine neue transplantiert werden. In seinem gerade für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Buch „Leben“ erzählt der in Berlin lebende Schriftsteller nun die Geschichte dieser Organtransplantation, und zwar von dem Zeitpunkt an, da starke Blutungen aus der Speiseröhre ihn an die Grenze von Leben und Tod führen. Das weiß er schon im Notarztwagen auf dem Weg ins Krankenhaus: „Im Liegen treffe ich nur halb in die durchsichtige Tüte, die mir hingehalten wird, das meiste geht daneben, schwappt auf den Boden, und ich weiß, wird diese Blutung nicht schnell gestoppt, bin ich bald tot.“

Er wird gerettet und registriert beim Aufwachen, wie Zeit und Raum durcheinandergeraten. Wagner hat den Eindruck, er treibe auf dem Meer oder schwebe über der Stadt; dann glaubt er wieder, an Bord eines Schiffes zu sein. Oder er fragt sich: „Bin ich vielleicht doch schon tot?“ Dazu kommen in der Folge mehr und mehr Erinnerungen an die Kindheit, deren Sound man noch von Wagners im Jahr 2000 erschienenem Romandebüt „Meine nachtblaue Hose“ im Ohr zu haben meint, an nicht wenige verflossene Lieben, an Reisen. Irgendwann ist es die Uhr des Vaters, die stehen bleibt und zum Sinnbild für seine Krankenhausexistenz wird, mündend in der Frage: „Wie viele Tage liege ich schon hier?“

Als Erzähler jedoch behält Wagner den Überblick, versteht er es, seinen Lebens- und Überlebensstoff zu ordnen. Der erste Teil des Buches gliedert sich in drei größere Kapitel, die von zwei Krankenhausaufenthalten handeln – und dem Warten auf den Anruf mit der Nachricht, dass es eine passende Spenderleber gebe: „Mit jedem Tag steigt die Wahrscheinlichkeit zu sterben, jeder Tag ist ein Tag näher dran am Tod. Doch jeden Tag, das ist die Ironie der Liste, steigt auch die Chance zu überleben – nur muss ein anderer vorher sterben.“ Der zweite Teil, vom ersten durch mehrere leere und zwei in Schwarzgrau gehaltene, ebenfalls leere Seiten abgesetzt (hier hat der Verlag auch das schwarze Lesebändchen als erstes platziert, warum auch immer), dieser zweite Teil handelt von der erfolgten Transplantation, der Nachsorge, den Komplikationen. Den gesamten Text aber, und das zeigt das veränderte Zeit- und Raumerleben des Erzählers kongenial an, hat Wagner in viele kleine Einheiten gewissermaßen zerlegt; in 277 Abschnitte, um genau zu sein, auf die am Schluss ein kurzer, passender, dem Text angemessener Epilog folgt, ein Arztbericht über den „hervorragenden Allgemeinzustand“ des Patienten bei einer Kontrolluntersuchung ein Jahr nach der Transplantation.

Diese Erzählweise, inklusive einiger anderer eingestreuter ärztlichen Bulletins, gemahnt an die Offenheit von Blogs und Internettagebüchern. Und weil „Leben“ eben auch die Geschichte einer Krankheit ist, erinnert es bisweilen an das „Arbeit und Struktur“ betitelte Internettagebuch von Wolfgang Herrndorf. Darin berichtet Herrndorf von seinem Kampf gegen einen unheilbaren Hirntumor, Monat für Monat, seit Diagnosestellung. Er erinnert sich darin jedoch zudem an seine Kindheit, erzählt Träume nach, schildert Arztbesuche oder wie er den Wechsel der Jahreszeiten erlebt, zumeist am Plötzensee, beim Schwimmen oder Herumlaufen.

{David Wagner erzählt, wie er ins Leben zurückfindet}

Ein großer Unterschied ist: Wolfgang Herrndorf schreibt in seinem Blog gegen den Tod an. David Wagner erzählt, wie er in ein neues Leben findet („Für neue Leben“ heißt ein Essay, den er kurz nach der Transplantation darüber geschrieben hat) – mit einer neuen, zugleich fremden Leber, das gesunde, lebendige Organ eines anderen, toten Menschen. „Ach ja,“, weiß er, „ich bin jetzt nicht mehr allein, nie mehr, ich habe dich ja immer bei mir, eingesetzt, festgenäht, angewachsen, du bist ein Stück von mir.“ Dieses Du könnte man als zweite Hauptfigur von „Leben“ bezeichnen. Häufig spricht der Transplantierte diese Figur an, fragt sich, wer sie ist/war, wann sie starb, woran, wie alt sie da war, wie sie ausschaute und so weiter. Aber er reflektiert auch das Fremde in seinem Körper, das jetzt das Seine ist, sinniert über die Metaphernwelt im Zusammenhang von Transplantationen („Organverpflanzung“). Oder er sehnt sich danach, die neue Leber als Ersatzteil zu betrachten, wie bei Autos: „Dann wäre ich die botanische Metaphorik los.“

Trotzdem findet Wagner, das macht das zusätzliche Besondere dieses Buches aus, oft zurück in die Gegenwart, seine Krankenhausgegenwart, in das Geschichtenhaus, welches das Krankenhaus mit der Zeit wird. Die Mitpatienten erzählen ihre Lebens- und Leidensgeschichten: ein libanesischer Fleischer, ein Bauarbeiter oder ein Getränkehändler, der ja, merkt der Erzähler an, schon von Berufs wegen leberschädigungsgefährdet ist. Oder ein Russlanddeutscher, der dauernd an eine Tüte mit Äpfeln geht, um sich einen zu schälen, und dessen Habe überhaupt nur in Plastiktüten verstaut zu sein scheint. Und weil die vielen Krankheitsgeschichten zu Überdruss führen können, gibt es als Rettungsanker die Dinge in der Umgebung: den „lieben Nachtschrank“, die „liebe Notruftaste“ oder den „lieben Galgen“ (so heißen die Bügel zum Festhalten an den Betten). Sprecht mit mir, fleht Wagner sie an, so wie er in seinem Supermarkt-Roman „Vier Äpfel“ mit den Dingen gesprochen hat, und tatsächlich scheinen sie mit ihm zu kommunizieren, so einseitig das Ganze sein mag. Ja, hin und wieder blitzt hier auch Komik auf – wenngleich durch „Leben“ ständig der Geist des Todes weht, nicht nur weil sich Wagner den eigenen ständig vergegenwärtigen muss. Er erinnert sich viel an seine an Krebs verstorbene Mutter, an eine Geliebte, die in Berlin beim Überqueren einer Straße überfahren wurde, an andere Tote. Trotzdem hält er schreibend wunderbar die Balance zwischen Melancholie und Lakonie, man fühlt sich als Leser durch den empfindungsreichen, nicht leichten, aber auch keineswegs schweren Ton seiner Sätze regelrecht aufgehoben.

Gerade weil dieses Buch so privat ist, und ungeachtet der von Wagner sich ausbedungenen fiktiven Freiheit („Alles war genau so und auch ganz anders“ heißt es zu Beginn), mutet allerdings die zumindest verbale Distanz gegenüber „dem Kind“ oder „der Tochter“ etwas seltsam an. Seine Tochter ist einer der wichtigsten Gründe, all das durchzustehen, und doch reicht es bei ihrer Erwähnung nur selten zu einem Possessivpronomen.

Und dass es am Ende „das Kind“ und das Schreiben sind (dieses Buch als Dank an den Spender!), die David Wagner endgültig ins Leben zurückrufen, wirkt schließlich arg gesucht, wie eine leicht kitschige, romanhafte Rundung. Das aber ist in diesem schön nachhallenden Buch tatsächlich nicht mehr als ein sprichwörtlicher Schönheitsfehler.

David Wagner: Leben. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 286 Seiten, 19, 90 €.

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