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Ballett: Barfuß nach Babylon

Angelin Preljocaj choreografiert den Weltuntergang bei der Spielzeit Europa.

Angelin Preljocaj möchte die Inspirationsquelle für sein neues Ballett ganz wörtlich verstanden wissen. Er hat sich die Offenbarung des Johannes vorgenommen, die Apokalypse. Apo kommt von aufheben, calypsis von Schleier. Den Schleier will der französische Choreograf lüften, zwischenmenschliche Mechanismen und Rituale vorführen. Für manche Tänzerinnen bedeutet diese Enthüllung noch ganz anderes Wortwörtliches: Sie dürfen sich das erste Mal in ihrer Karriere ihrer Spitzenschuhe entledigen.

Denn Preljocaj arbeitet in seiner Produktion „Und dann, tausend Jahre Stille“, die zur Berliner Spielzeit Europa eingeladen ist, nur zur Hälfte mit den Leuten seiner eigenen Compagnie. Die andere kommt vom Bolschoi-Theater. Preljocaj war von den Russen gebeten worden, eines seiner Stücke ins Repertoire aufnehmen zu dürfen, so wie das viele Häuser tun, die Pariser Oper, die Mailänder Scala oder das New York City Ballet. Der Choreograf, selbst einmal klassischer Tänzer, bevor er unter anderem beim Tanzerneuerer Merce Cunningham in Ausbildung ging, sah sich das Ensemble an. Und wusste, dass er ihm keine seiner bestehenden Arbeiten aufdrücken wollte. „Sie sahen so besonders, so anders aus“, schwärmt er noch heute. „Sie bewegten sich so instinktiv.“ Es ist schwer vorzustellen, was er damit meint, gehen russische Tänzer doch durch die härtesten, schmerzvollsten Schulen der Welt. Angelin Preljocaj wollte Neues mit ihnen entwickeln und ließ sie auf seine eigenen Tänzer des modernen Balletts prallen. Barfuß.

Im Stück spielen Zugehörigkeiten keine Rolle mehr. Preljocaj macht modernes Ballett mit zwei Ensembles, die zu einem tanzenden Körper verschmelzen. Nur in den Pas-de-deux-Szenen gibt es immer ein russisch-französisches Paar, ohne dass sich auch hier tänzerische Unterschiede erkennen ließen. Die Zweisamkeiten sind die berührendsten Momente. Wenn zwei Männer sich umschlingen, zwischen Gewalt und Zärtlichkeit balancieren, sich beißen und am Ende küssen. In Moskau mag das Publikum an dieser Stelle den Atem angehalten haben. Noch vor der Uraufführung im Bolschoi-Theater wurde Preljocaj gebeten, einen nackten Tänzer zu bekleiden. Der trägt nun ein hautfarbenes Etwas.

Zu orgiastischen Tableaux Vivants stellen sich die Frauen und Männer auf, die Beine eng ineinander verschlungen, von Kopf bis Fuß eingewickelt in die Flaggen dieser Welt. Sie werfen sie in Wasserbecken und klatschen sie auf die Bühnenbretter, dass es nach allen Seiten spritzt. So, als wollten die Tänzer das Blut von den Fahnen kriegsführender Nationen abwaschen. Nur die russische durfte damals nicht mit dabei sein.

Krieg, Gewalt, Sünde, das sind die Themen des albanischstämmigen Choreografen. Er liest die Apokalypse als revolutionären Text. Die Hure Babylon, die bei Johannes als Symbol für das sündige Rom verstanden werden kann, ist am Ende besiegt. Preljocaj bietet eine Übersetzung in die Gegenwart, wenn quicklebendige Lämmchen auf den reingewaschenen Fahnen abgesetzt werden und Tänzer sie mit der Flasche füttern. Es ist das letzte Bild. Nach einer ganzen Reihe von Bildern religiöser Symbolik. Da werden Münder mit Büchern gestopft. Die Tänzer tragen schwer an rasselnden Ketten. Biblischer Hagel und Donner kommen bei Preljocaj nicht mehr vor. Dafür peitscht der Techno-Sound von Laurent Garnier die 211 Tänzer ein.

Sie greifen mit gestreckten Armen in die Horizontale aus, schreiten mit langen Schritten die Weite ab. Raum ist bei Preljocaj immer präsent. Kontraste auch. Mal agiert sein Ensemble statisch wie Gliederpuppen, mal wendig wie gehetzte Tiere. Hin- und hergebeutelt sind sie. Und immer ist es ein Spiel zwischen den ganz großen und den ganz kleinen Gesten.

Für das Berliner Staatsballett hat der 53-Jährige zuletzt „Schneewittchen“ inszeniert, mit Kostümen Jean Paul Gaultiers. Bei „Und dann, tausend Jahre Stille“ ist neben DJ Laurent Garnier, einem der Großen der europäischen Clubmusik-Szene, auch der russische Modedesigner Igor Chapurin mit von der Partie. Er hat die knappen Hängekleidchen und Hosenröcke entworfen. Das Bühnenbild stammt von Subodh Gupta, einem international erfolgreichen indischen Künstler. Als Vorbild sehe er die Avantgarde vom Anfang des 20. Jahrhunderts, sagt Preljocaj. Der Direktor der Ballets Russes, Sergej Diaghilew, holte Picasso und Braque als Ausstatter. Der Choreograf Preljocaj lässt sich bei seiner Auswahl ganz vom Privatmann Preljocaj leiten. Er rufe einfach jene an, die er immer schon gut fand.

Premiere am Donnerstag, 2. Dezember. Weitere Vorstellungen am 3. und 4. Dezember, im Haus der Berliner Festspiele.

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