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August 1945. Die von dem Tschechen Jan Letzel erbaute Industrie- und Handelskammer nach dem Abwurf der Bombe. Foto: Keystone

© KEYSTONE

Kultur: Barbaren im Namen des Volkes

Weil Demokratien im Krieg eigene Verluste vermeiden müssen, war Hiroshima zwingend, schreibt Florian Coulmas

In der Epoche der „neuen Kriege“ gilt der Westen als unheroisch. Daher werden ihm Niederlagen vorhergesagt – früher oder später. Haben seine Bürger verlernt, zu sterben für Volk und Vaterland? Seine Gegner in Afghanistan, in Pakistan, in Somalia und im Irak halten die westlichen Demokratien für kriegsmüde, verweichlicht und hedonistisch verdorben. Auch im Westen selbst hat sich der Eindruck verfestigt, der eigenen Bevölkerung keine größeren Opfer in gewaltsamen Konflikten zumuten zu können. Doch dieses Bild trügt. Die Demokratien des Westens haben sich bereits in früheren Kriegen wenig heroisch verhalten – und dennoch gewonnen. Das zeigt nicht zuletzt ein Blick auf die von Florian Coulmas sehr pointiert geschilderte Geschichte und Nachgeschichte der nuklearen Zerstörung Hiroshimas und Nagasakis durch die US-Airforce.

Um den politischen Rückhalt der Wähler an der Heimatfront nicht zu verlieren, haben demokratische Regierungen in der Regel versucht, die Anzahl der eigenen Kriegsopfer möglichst niedrig zu halten. Wo dies nicht gelang – wie in Frankreich während des Ersten Weltkrieges – schwand die Bereitschaft von Soldaten wie Zivilisten, die Belastungen des Krieges durchzustehen. Auch im Zweiten Weltkrieg waren die westlichen Alliierten im Gegensatz zur totalitären Sowjetunion stets bemüht, ihre Verluste zu begrenzen. Hierauf beruhte unter anderem die Entwicklung des strategischen Luftkrieges durch die Briten. So waren die alliierten Offensiven gegen Deutschland, Italien und Japan in der Luft wie zu Wasser und zu Lande von der Vermeidung eigener Opfer geprägt.

Ob dieses für Demokratien typische Verhalten im Krieg auch zum Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki führte, ist bis heute umstritten. Japan- Experte Coulmas zitiert Präsident Truman, der nach dem Krieg seine Entscheidung damit begründete, dass die nuklearen Angriffe eine Invasion Japans überflüssig gemacht und dadurch Hunderttausenden von amerikanischen Soldaten das Leben gerettet habe. Dabei war in den militärischen Planungen während des Krieges von weniger als einem Zehntel der 500 000 bis zu einer Million GIs die Rede gewesen, die Truman im Nachhinein als zu verhindernde Opfer nannte. Da jedoch die vermeintliche Rettung so vieler amerikanischer Menschenleben die beste Rechtfertigung für den Einsatzbefehl abgab, wurden diese fiktiven Opferzahlen Teil der amerikanischen Erinnerung.

Wie wenig hochrangige Militärs im Gegensatz zur politischen Führung vom militärischen Nutzen der Bomben und von der Vertretbarkeit ihres Abwurfs überzeugt waren, verdeutlicht Coulmas am Beispiel von General Dwight D. Eisenhower. Der Oberkommandierende der US-Truppen in Europa und spätere Präsident bemerkte: „Ich glaubte, dass unser Land es vermeiden sollte, die Weltmeinung durch die Verwendung einer Waffe zu schockieren, deren Einsatz meines Erachtens nicht mehr erforderlich war, um amerikanische Leben zu retten.“ Noch deutlicher wurde post factum Admiral William Leahy, der Stabschef: „Die Japaner waren schon geschlagen und bereit, sich zu ergeben. Der Einsatz dieser barbarischen Waffe gegen Hiroshima und Nagasaki half unseren Kriegsanstrengungen gegen Japan in keiner Weise. Durch ihre Erstverwendung haben wir uns den moralischen Standard von Barbaren des finsteren Mittelalters zu eigen gemacht. Ich habe nicht gelernt, auf diese Weise Krieg zu führen, und Kriege werden nicht durch die Vernichtung von Frauen und Kindern gewonnen.“

Doch warum wurde der Krieg im Pazifik dann auf eben diese Weise beendet? Coulmas versucht, die verschiedenen Faktoren, die zusammenkamen, zu gewichten: Während militärische Gründe scheinbar kaum ins Gewicht fielen, misst der Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio dem politischen Motiv Trumans, gegenüber Stalin Stärke zu demonstrieren, große Bedeutung zu. Eine nicht unerhebliche Rolle spielten auch der Druck, die gewaltigen Kosten des atomaren Projekts zu rechtfertigen, und die Bereitschaft zur Dehumanisierung des Gegners.

In den Vereinigten Staaten wird der Pazifische Krieg als ein notwendiger, Amerika aufgezwungener Opfergang erinnert, der mit dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor begann. Warum sich diese Sichtweise im kollektiven Gedächtnis scheinbar kaum mit der Anerkennung dessen vereinbaren lässt, dass die atomaren Bombardierungen Unrecht waren, hat für Coulmas weniger historische Gründe. Vielmehr gehe es um Gegenwart, um Identität, Stolz und Legitimation politischen Handelns. Denn seit Hiroshima waren die USA in mehr Kriege verwickelt als jede andere Nation. Ihre demokratische Verfassung macht es dabei erforderlich, für jeden dieser Kriege, von Korea bis Irak, die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen.

Dies ist nach Coulmas’ Analyse allein durch die feste Verankerung der Ideologie vom gerechten Krieg im kollektiven Selbstverständnis zu erreichen. Diese Ideologie sei für das amerikanische Selbstverständnis so überaus wichtig, weil die Vereinigten Staaten – anders als die traditionellen europäischen Mächte, die Territorialkonflikte oft mit kriegerischen Mitteln lösten, ohne damit moralische Grundsätze zu verbinden –, immer die Notwendigkeit gesehen hätten, Krieg moralisch zu rechtfertigen. Ein militärischer Konflikt steht folglich nicht für eine Auseinandersetzung zweier Kontrahenten, die beide mit gleichem Recht gewinnen könnten, sondern für einen Kampf zwischen Gut und Böse, wobei die USA das Gute verkörpern. Nicht um die eigenen Rechte mit Gewalt gegen andere durchzusetzen, wird Krieg geführt, sondern um dem Krieg ein Ende zu bereiten und dem Gemeinwohl beziehungsweise dem Wohl der Menschheit zu dienen. Schon im Ersten Weltkrieg gab Washington seine anfängliche Neutralität auf in der Absicht, das Übel des Krieges vollständig auszurotten – für Coulmas eine der erstaunlichsten Illusionen der Weltgeschichte im 20. Jahrhundert.

Da viele der amerikanischen Gegner auf dem Schlachtfeld – Hitlers Deutschland, Japan im Pazifischen Krieg, Vietnam unter Ho Chi Minh, der Irak Saddam Husseins, die Taliban in Afghanistan – Unrechtsregime waren oder sind, dient die Ideologie des gerechten Krieges sogar zur Legitimation von Hiroshima und Nagasaki. Denn wenn auf der Seite des Gegners das absolute Böse steht, lautet das Kriegsziel nicht die Minimierung der Toten an sich, sondern lediglich die der eigenen Toten. Bereits Coulmas’ Kollege Martin Shaw hat in seinem Werk „War and Genocide“ das kriegerische Verhalten westlicher Demokratien treffend charakterisiert: „Das Leben der Soldaten der eigenen Nation zu schonen, selbst um den Preis, eine weit größere Zahl von Zivilisten der Gegenseite zu töten, war im Westen immer einer der Hauptgründe, andere zu töten – von Hiroshima bis Kosovo.“ Mit Heroismus hat all dies wenig zu tun – weder in den „alten“ symmetrischen Staatenkriegen in Europa und im Pazifik noch in den „neuen“ asymmetrischen Kriegen am Hindukusch, in Afrika oder Nahost.







– Florian Coulmas:

Hiroshima.

Geschichte

und Nachgeschichte. C.H. Beck Verlag,

München 2010.

127 Seiten, 8,95 Euro.

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