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Kultur: Bayreuth, der zweite Tag: Wagner auf Tauchstation

Zum Wagner-Glück fehlt dem Wagner-Theater oft gar nicht viel. Denn zwischen Stuttgart und dem Grünen Hügel, zwischen Chicago gestern, Chemnitz heute und Zürich oder München morgen gilt: Weniger ist meistens mehr.

Zum Wagner-Glück fehlt dem Wagner-Theater oft gar nicht viel. Denn zwischen Stuttgart und dem Grünen Hügel, zwischen Chicago gestern, Chemnitz heute und Zürich oder München morgen gilt: Weniger ist meistens mehr. Nur ein gleichsam nackter Wagner, einer, der sich seines inneren Bärenfells längst entledigt hat, wäre heute noch ein glaubhafter Wagner, und das heißt: ein von aller Rezeptionsschlacke und ideologisch-ästhetischen Fußangeln Befreiter. Dann würde die Welt begreifen, was er, der das unsichtbare Orchester schuf und bis zuletzt vom "unsichtbaren Theater" träumte, alles nicht braucht: keine am Trommelfell fressenden Phonstärken aus den Gräben (wobei diese Gefahr in Bayreuth kaum besteht), keine wild schmauchenden Bühnenmaschinerien, keine pathetischen Gesten oben und keine Frömmeleien unten.

Konkret: Wenn Wotan Brünnhilde, seinem "kühnen, herrlichen Kind" im dritten Akt der "Walküre" jede Zärtlichkeit verweigert, wenn er den Machtbolzen hervorkehrt und weder Vater sein will noch Liebender noch Geliebter, dann reicht es, wenn Alan Titus zwei Mal rüde den Kopf nach links wirft und Gabriele Schnaut in ihrem Nachthemdchen ganz hinten in der weiten, düsteren Beton-Ellipse der Götterburg Walhall erschüttert auf die Knie sinkt. Eine starke, von Jürgen Flimm uneitel durchchoreografierte, von den Protagonisten mit Ruhe und Präzision vorgetragene Szene - die leider unter zwei Einschränkungen litt. Einerseits konnten oder wollten Flimm und sein Bühnenbildner Erich Wonder im Feuerzauber-Finale diese Spannung nicht halten, ließen stattdessen die Göttertrutzburg sich wie eine Auster hochkant über der Wunschmaid schließen und drumherum die Gletscher glühen und Eisgebirge lodern. Andererseits haben sich mir, gerade was den dritten Akt angeht, die traumatischen Bilder von Christof Nels Stuttgarter "Walküre" in die Netzhaut geätzt - wie der Koloss Jan-Hendrik Rootering da um ein letztes bisschen Liebe buhlte, wie Renate Behle am Ende vor nichts als ein paar brennenden Kerzenstummeln am Küchentisch sitzt. Aber wir wollen nicht ungerecht sein.

Auch musikalisch muss von Einschränkungen die Rede sein. Zwar erschien Alan Titus im Zorn des Mächtigen gestaltungswilliger als im "Rheingold" - etwa, indem er sich gelegentlich ins Melodramatische vorwagte und eine Art Wagnerschen Sprechgesang kreierte oder indem er seinen väterlichen Schmerz gleichsam zähneknirschend in sich hinein fraß. Solche Differenzierungen lagen Gabriele Schnaut, der Brünnhilde, allerdings fern. In ungerührtem Dauerforte, mit metallischer Drohgebährde und entsetzlich gellenden Schreien pflügte sie durch die Partie. Unter derart viel Druck verfärbt sich die Intonation, wachsen den Tönen unansehnliche Bäuche und, was das Schlimmste ist, vergisst sich alles Gelungene, Schöne allzu rasch, etwa die fahle Tonlosigkeit bei "War es so schmählich, was ich verbrach".

Auch Giuseppe Sinopoli gab weiter Rätsel auf. Herrschte im Vorspiel des ersten Aktes noch bebender Aufruhr, so stellte sich in der zweiten Szene eine merkwürdige Pattsituation her. Weder wollte die unkeusche Liebe zwischen den beiden Wälsenkindern Siegmund und Sieglinde recht entbrennen, noch verkündeten Hundingshörner je existentiell Bedrohliches. Tempi schwankten, Motive gerieten förmlich ins Stoppen und Stottern, die Musik ging auf Tauchstation. Und selbst im Walkürenritt war es, als entglitte Sinopoli jede Balance: Wie auf einem anderen Planeten trillerten die Holzbläser über alle mahlenden, stampfenden Hufschläge hinweg. Solcher Spaltklang aber macht bei Wagner, wird er nicht zum analytischen Prinzip erhoben, wenig Sinn - und auf Dauer wenig Laune und wenig Lust.

Gerne wird in Bayreuth von der "subversiven Kraft" des Wagner-Gesangs gesprochen. Wie arg sich die Figuren auch gegenseitig demütigten, quälten, zerstümmelten oder zerstörten - das Singen, die dramatisch erhobene, den Raum erobernde, stürmende Stimme, sie verfügt über ganz eigene, andere Wahrheiten. Just in diesem Sinn trug das aktuelle Wagner-Glück auf dem Grünen Hügel, schenkt man den orkanartigen Ovationen nach dem ersten Akt der "Walküre" Glauben, vor allem zwei Namen: Waltraud Meier und Placido Domingo. Das Traumpaar. Und was hätte Jürgen Flimm aus dieser Konstellation nicht alles machen können, ja unbedingt machen müssen! Eine Geschwisterliebe mit Biografie, zwei Menschen, die in ihren Gesichtern wie auf ihren Stimmbändern Erlebtes, Erlittenes, ja Vernarbtes tragen und wie zum Trotz noch einmal in jubilierendes Liebesglück ausbrechen. Aber, nein. Flimm - und die beiden Stars mögen daran kräftig mitgewirkt haben - tut so, als sei Sieglinde nun einmal Sieglinde und backfischhaftes Elslein, welches mit seinem Brautschleier am allerliebsten durch Erich Wonders semmelblondes Tschechow-Schilf segelt; und auch Siegmund bleibt, was er vermeintlich ist: ein heimatloser Held, den die "Winterstürme" erst unterm mimmigen Wolfspelz nicht mehr peitschen.

Die Stimmen und Personen erzählen da eine andere Geschichte. Nicht nur, dass Domingo der Zwerchfellstütze halber meist im Ausfallschritt verharrt. Seine Sprache ähnelt dem Deutschen bestenfalls; und vor allem ist er zu keinem einzigen Piano mehr bereit - kernige "Wälse!"-Rufe hin, das gute, alte, baritonal glänzende Tenor-Timbre her. Auch Waltraud Meier ist den lyrischen Seiten der Sieglinde schon lange entwachsen. Prompt tritt sie im zweiten Akt, da alle Jugendlichkeit sich ins Tragische wendet, die Flucht nach vorn an, schickt ihre spitzen Töne wie Leuchtraketen in den Saal (stets von jenem leicht gurgeligen Vibrato unterlegt, das wie ein Turbo wirkt) - und entäußert sich, lässt ihre Sieglinde an den Rand des Wahnsinns treten. Eine mitreißende Studie, zweifellos. Überhaupt wissen die beiden sich miteinander, aneinander phänomenal zu steigern. Indem die Regie jedoch frühzeitig alle Gewalt über Ausdruck und Geschmack abgegeben hat, bleiben die Sänger auf sich selbst zurück geworfen: Meier und Domingo singen Meier und Domingo. Ein Etikett, ein Schutzschild, so schön und so groß, dass der ganze "Ring", nein: der ganze Grüne Hügel bequem darunter Platz findet.

Christine Lemke-Matwey

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