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Die Berliner Philharmoniker und der Rundfunkchor spielen Beethovens Neunte.

© Monika Rittershaus

Beethoven-Zyklus der Philharmoniker: Die Elektrifizierung des Ludwig van B.

Erkenntnis und Ekstase: Ein Rückblick auf Simon Rattles radikalen Beethoven-Zyklus mit den Berliner Philharmonikern.

Am Donnerstag gab’s Beethoven mit den Philharmonikern bundesweit in 80 Kinos, live aus Berlin, die Vierte und die Siebte standen auf dem Programm. Erst Komödie, dann Drama, das passte. Zumal der Trauermarsch der Siebten als Soundtrack außerordentlich beliebt ist, zuletzt im oscar-prämierten Stotterer-Film „The King’s Speech“. Es ist aber nicht das berühmte, zu ungeduldig ins Fortissimo mündende Allegretto, bei dem einem in der Philharmonie Hören und Sehen vergehen, auch wenn der ins Leere trudelnde Schluss aufhorchen lässt. Es ist der Schlusssatz der Siebten. Alle Beethoven-Sinfonien in fünf Tagen: Wenn etwas bleibt von diesem Zyklus, den Simon Rattle zum Auftakt seiner letzten Amtsjahre als Chef der Philharmoniker aufs Programm gesetzt hat, dann dieses Fanal. Schon die ersten Akkorde peitschen durch den Scharoun-Saal, als wohnte man einer standrechtlichen Erschießung bei.

Dröhnende Bässe. Kratzende Bögen. Staccati, Pizzicati, an denen man sich verletzen kann. Wie aus Granit meißelt Rattle die Figuren des Allegro con brio heraus, bei irrwitzigem Tempo: die „Apotheose des Tanzes“ als Amoklauf. Rattle verwandelt das Orchester in ein monströses Schlagwerk, das Primat des Rhythmus zerfetzt alles Melodische.

Beethoven als einer, der das Korsett der Konventionen aufsprengt, als Selbstzerstörer: Die Musiker geraten förmlich außer sich. Sich derart in Rage zu spielen (mit sichtlicher Begeisterung), das traut sich außer den Berliner Philharmonikern wohl kaum ein anderes Weltklasseorchester. „Alle Menschen werden Brüder“, der Slogan der Neunten am nächsten Tag, auch er kulminiert im Zerstörungskraftakt. Der Frieden, den Beethoven beschwört, liegt in ferner Zukunft, damals wie heute. Beethoven, der Idealist, so deutet es Rattle, hätte ihn gerne herbeibezwungen. Und er wusste, es geht nicht vor lauter Wirrnis und Wahn.

2002/2003 hatte Rattle sämtliche Beethoven-Sinfonien bereits mit den Wiener Philharmonikern aufgeführt und eingespielt. Schon da entromantisierte er den Titan der Wiener Klassik, versöhnte das traditionelle Beethoven-Spiel mit den Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis und schuf die „Synthese aus dem großen romantischen Atem Furtwänglers und der gestischen Anschaulichkeit und vielstimmigen Belebtheit Harnoncourts“, wie im Tagesspiegel stand. Diesen Gedanken verfolgt Rattle jetzt weiter, treibt ihn ins Extrem und erkundet, was geschieht, wenn man Beethoven radikal beim Wort nimmt. Etwa die Tatsache, dass die allerersten Takte der ersten Symphonie in C-Dur aus Schlussfloskeln bestehen: Septakkord - und Punktum in F-Dur, komplette Verwirrung. Da hebt einer dissonant an, erklärt gleich das Ende und gibt doch nicht auf. Eine Skizze, die Rattle als Grundlage von Beethovens symphonischem Werk nimmt, bis zum Chorfinale der Neunten.

Der Maestro ballt die Faust, sticht in die Luft

Der philosophische Klemperer-Beethoven, der klangsatte Karajan-Beethoven, der elegante Abbado-Beethoven, sie sind Musikgeschichte. Auch Rattles eigene detailversessene Interpretationen aus seiner Anfangszeit in Berlin, die den individuellen Ausdruck aufs Podest hoben und die Solostimmen herausziselierten. Rubati, Effekte, es war einmal. Jetzt geht es ums Ganze, ums gesellschaftliche Ganze. Um die Gewalt, die der Schönheit den Garaus macht, um den Konkurrenzkampf, der das dialogische Prinzip ablöst, den Terror, in den die Obsession umschlagen kann. Die Zeiten sind so.

Beethoven ist Repertoire, ein Kassenschlager, beliebt und vertraut. Die Konzerte in den beiden Zyklen seit 6. Oktober verkauften sich bestens. Weg mit den Gefälligkeiten, scheinen Simon Rattle und die Philharmoniker mit ihrem Spiel der eigenen Marketingstrategie samt Kino-, Digital-Concert-Hall- und demnächst auch CD-Auswertung entgegenzusetzen. Der Maestro ballt die Faust, sticht in die Luft, dirigiert ganztaktig, soweit die Partitur es erlaubt, reißt den Taktstock nach oben, markiert die groben Konturen, wahrt Bodenhaftung, steht fest auf den Beinen. Bloß keine Gefälligkeiten, keine Gefühlsduseleien, mit lyrischen Details hält Rattle sich nicht auf. „No Easy Listening“, sagt er selbst und dass er es schnörkellos will, „ehrlich, wild, wahr“.

Rattle arbeitet die harmonischen Brüche und Sprünge heraus

Die Berliner Philharmoniker und der Rundfunkchor spielen Beethovens Neunte.
Die Berliner Philharmoniker und der Rundfunkchor spielen Beethovens Neunte.

© Monika Rittershaus

Das funktioniert nicht immer. Den Humor, die Leichtigkeit in der Vierten und der Achten vermisst man dann doch, auch ist das traumhafte Pianissimo der Philharmoniker nur selten zu hören. Das Experiment kostet seinen Preis, aber es lohnt sich. Einerseits sind die Stimmen radikal entmischt, die zweiten Geigen sitzen den ersten gegenüber, fallen sich ins Wort, ringen miteinander. Sämtliche Abende werden in der sogenannten deutschen Aufstellung musiziert, mit den Kontrabässen hinter den ersten Geigen und den Celli in der Mitte. Das sorgt bei aller Entmischung und Durchhörbarkeit für ein kompaktes, dunkel grundiertes Timbre mit hohem Geräuschanteil. Ein Paradox, das jedoch die Architektur von Beethovens Symphonik kenntlich zu machen, den Bauplan, der mehr aus kurzen Figuren und Motiven gefügt ist als aus klassischen Themen und mit seinen Unberechenbarkeiten die Moderne vorwegnimmt.

So viel Wut - kein Wunder, dass es laut wird

Rattle arbeitet die harmonischen Brüche und Sprünge heraus, die Dissonanzen und Schnitte, das Montierte, im Wortsinn Komponierte. Nervös zuckende Streicherfiguren, Sforzati wie Stromschläge, harsch und brutal – die Elektrifizierung des Ludwig van B.. Nichts Heroisches haftet dem an, vielmehr entlädt sich die Energie der Verzweiflung. Bekanntlich ist sie politisch wie persönlich begründet, aus Beethovens Enttäuschung über Napoleon und die gescheiterte Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts, aus dem Leiden an der eigenen Ertaubung. So viel Wut, kein Wunder, dass es so laut ist, so rastlos. Die famosen Solisten der Philharmoniker, die sich abwechseln in diesen Tagen, der Flötist Emmanuel Pahud, der Hornist Stefan Dohr, Andreas Ottensamer und Wenzel Fuchs (Klarinette), Albrecht Mayer und Jonathan Kelly (Oboe), die Fagottisten Daniele Damiano und Stefan Schweigert, um nur einige zu nennen, sie müssen sich der Sforzati-Wut unterwerfen.

Nicht, dass Rattle nicht differenziert. Bei den frühen Sinfonien treten die Philharmoniker in schlanker Besetzung auf, mit nur zehn ersten Geigen und drei Kontrabässen, bei den mittleren sind es zwölf und fünf Bässe, bei der Siebten sogar sechs Bässe, die Neunte folgt in ganz großer Besetzung. Und wenn Beethoven den Klang intensiviert, sitzen Piccoloflöte und Kontrafagotte hinten neben dem Schlagzeug – als eigenes Farbregister. Man kann sehen, was einem da in die Magengrube fährt.

So unversöhnt klingt Beethoven selten. Und ungemein physisch. Der Marcia funebre der Eroica: Trauer ohne Trost, nach außen gestülpter Schmerz. Das Eroica-Finale mit seinem in Einzeltöne zerlegten Pizzicato-Thema und den derben Tutti-Zwischenrufen: ein kubistisches Porträt, mit dem alles zermalmenden Presto am Schluss. Die kurzatmigen Wechsel der Instrumentierung im dritten Satz der Vierten: schon wieder Musik, die sich selber zerlegt. Das zu Tode gespielte und karikierte Schicksalsmotiv der Fünften, auch das ja mehr Rhythmus als Melodie: Rattle übergeht die Fermate fast, drängt unwirsch weiter, entreißt dem Motiv seinen triumphalen Gestus. Schließlich die Schiller-Ode der Neunten: mehr Aufschrei als Gesang.

Im November geht das Orchester auf Tournee nach Paris, Wien, New York

Nicht ein paar Takte Trost? Für die Natur als letzte Utopie nehmen die Philharmoniker sich alle Zeit der Welt, in der „Szene am Bach“ der Pastorale. Sanft und glutvoll heben die Streicher an, mit der behutsam im Fagott einsetzenden Kantilene singt die Natur ein Wiegenlied für die geschundene Kreatur. Endlich Legato, endlich Balsam auf die Wunden, auch das ein Höhepunkt dieser Reise ins Herz der Finsternis. Und die Holzbläser intonieren ihre Kuckuck-, Wachtel- und Nachtigallrufe nicht als kecken Programmmusikspaß, sondern als letzte, vergebliche Intervention, bevor das Inferno des Sturms losbricht.

Beethoven als Endzeitmusik? Eher als Versuch über Erkenntnis und Ekstase, als work in progress allemal. Im November geht das Orchester mit dem Zyklus auf Tournee nach Paris, Wien und New York (und im Mai 2016 nach Tokio). Gerne würde man hören, wohin die Reise dabei mit Beethoven geht.

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