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Eine musikalische Pilgerfahrt. Drei Wochenenden lang erklang Beethoven auf dem Pilatus-Berg bei Luzern.

© Christian Perret

Beethovenzyklus auf dem Pilatus-Berg bei Luzern: Musikalischer Höhenflug

Der Pilatus hat schon viele Künstler inspiriert. Grund genug, den Gipfel mit einem Beethovenzyklus zum Zauberberg auf Zeit zu machen - mit eingeflogenem Pianoflügel, versteht sich.

Die Begrüßung muss unterbrochen werden, ein Steinbock lugt um die Ecke. Alle stürzen an die Panoramascheiben im Foyer. Ein unerwarteter Zaungast bei einem Beethovenzyklus. Aber er stiehlt den Musikern nicht die Schau, er wird Teil der Schau, die darin besteht, fünf Klavierkonzerte in hochalpiner Umgebung aufzuführen, und allerhand Kammermusik dazu. Nicht auf irgendeinem Gipfel, wie ja auch Beethoven nicht irgendein Komponist ist, sondern auf dem Pilatus, dem Haus- und Kultberg der ganzen Schweiz. Fast jeder Eidgenosse trägt Kindheitserinnerungen daran in sich. Auch dem Pianisten Oliver Schnyder bescherte er als Zehnjährigem „die Einweihung in unsere Berge, und den ersten schweren Muskelkater dazu.“

Er ist einer dieser archetypischen Gipfel, wo man wie Zarathustra mit der Morgenröte aufsteht und vor die Sonne hintritt. Nietzsche erlebte hier denn auch seine alpine Initiation, angestiftet durch Richard und Cosima Wagner, die öfter von Tribschen heraufkamen, mit Felix Draeseke im Schlepptau. Rachmaninow hatte den Pilatus vom Arbeitszimmer aus im Blick, auch Skrjabin nahm vis-à-vis Quartier.

So viel Musik in seinem Schatten aber auch geschrieben wurde – Konzerte erklingen hier oben nur selten. Weshalb der Flügel per Hubschrauber eingeflogen werden musste. Hochkant auf ein Rollwägelchen geschnallt, eingehakt und ab damit, begleitet vom sphärischen Tremolo der Rotoren. 2100 Meter über dem Meer konnte er sich akklimatisieren, dennoch musste der Klavierstimmer anfangs mehrmals täglich vor- und nachspannen.

An den drei vergangenen Wochenenden erklangen dann jeweils eine Nachtmusik und eine Matinee im Queen-Victoria-Saal des Hotel Pilatus-Kulm, einem Veteranen der Tourismusgeschichte. Das komplette Luzerner Sinfonieorchester hätte dort nicht Platz gefunden, so dass Schnyder mit den fünf Stimmführern der Streicher musiziert hat. Ein Hybrid also, eine künstlerische Gratwanderung, von den Musikern als „Höhentraining mit Belastungs-EKG“ apostrophiert.

Das Publikum aber goutiert die musikalische Pilgerfahrt, auch die letzten beiden Konzerte sind fast ausverkauft. Die meisten haben ein Paket mit Übernachtung und viergängigem Menü erstanden, und eines der spektakulärsten Panoramen Europas mit dazu. Tief unten gabeln sich die Fjorde des Vierwaldstättersees, gegenüber reihen sich die Eisriesen des Berner Oberlandes, und würde die Erdkrümmung es nicht verhindern, könnte man nach Norden vermutlich bis zum Kölner Dom schauen.

Vom Pilatus hat man die Aussicht auf eines der spektakulärsten Panoramen Europas.
Vom Pilatus hat man die Aussicht auf eines der spektakulärsten Panoramen Europas.

© Pilatus-Bahnen AG

Erklingt Beethoven an einem solch exponierten Ort anders? Die Antwort gibt Schnyder bereits mit den ersten Akkorden der Sonate op. 90: natürlich nicht. Denn die Musik schafft sich ihre eigene Welt. Die Grundhaltung des Werkes ist, ebenso wie in der folgenden Sonate op. 110, die Zwiesprache mit sich selbst. Sie entfaltet sich über irgendeinem schmerzlichen Geheimnis, einem Urgrund der Melancholie, das aber in klassischer Manier austariert und mit einem munteren „Gleichwohl!“ gekontert wird. Schnyders schnörkelloser Vortrag übernimmt dieses Streben nach Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit.

Hochkonzentriert: Pianist Oliver Schnyder spielt gemeinsam mit den Stimmführern des Luzerner Symphonieorchesters.
Hochkonzentriert: Pianist Oliver Schnyder spielt gemeinsam mit den Stimmführern des Luzerner Symphonieorchesters.

© Ingo Höhn

Am nächsten Morgen besteigen die Streicher in Konzertkleidung die erste Zahnradbahn. Junge Leute, die statt Gleitschirm oder Snowboard Bratsche und Kontrabass bergwärts führen. Nach dem Streichquartett op. 74 kulminiert die Matinee dann im 5. Klavierkonzert, das allein schon durch die himmelsstürmende Anfangskadenz und die rauschenden Klangkaskaden mit der heroischen Landschaft korrespondiert.

Und obwohl das Gegengewicht des Orchesters fehlt, wird das Konzert zum Erlebnis. Denn auch die Saiten der menschlichen Seele verstimmen sich an einem solchen Höhenpol – aber zum Besseren hin. In olympischer Unbelangbarkeit, hoch über den Niederungen des Alltags und eingebettet in den Kreislauf der Gestirne, tritt man den Werken freier, empfänglicher und klareren Geistes gegenüber. Beethovens Musik ließ den Pilatus zum Zauberberg auf Zeit werden.

Stefan Schomann

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