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Beisetzung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof: Christa Wolf: So weit, so nah

Aus vielen Gesichtern an diesem Trauertag spricht auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof verwandtes Vertrauen: Die Menschen haben Christa Wolf darum so tief vertraut, weil sie sich selbst und „die Innenseite der Weltgeschichte“ kannte.

Ob die Toten sich begrüßen, sich ein Zeichen des Wiedererkennens geben? Wie alte Bekannte eben; viele hier sind es, selbst Fichte und Hegel gehören dazu. Wer wie Hegel schon 1831 gestorben ist, dem scheinen zwar viele seiner Nachbarn neu und fremd: Bertolt Brecht, Heiner Müller ... Wer sind die? Aber er selbst ist nicht fremd, denn die anderen haben über ihn nachgedacht. Ja, ohne ihn, den Denker der Anwesenheit der Vernunft in der Wirklichkeit und der Wirklichkeit in der Vernunft, wären sie nicht Bertolt Brecht oder Heiner Müller geworden. Und auch Christa Wolf nicht Christa Wolf.

Fast alle, die hier liegen, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof zu Berlin, konnten zu Lebzeiten nicht schweigen. Warum sollten sie es jetzt können?

Aber noch sind die Toten ganz still. Noch gehört dieser Ort den Lebenden. Die Lebenden haben die lauteren Stimmen, schon darum glauben sie, sie hätten den Toten etwas voraus. Die ersten sind früh da. Vielleicht hatten auch sie von einer möglichen Sperrung der Chausseestraße gehört. Zwischen 6000 und 10.000 Menschen könnten da sein, hatte Christa Wolfs Verlag vermutet. Er hielt sich an ihre letzten Lesungen. In Leipzig waren über 2000 Menschen gekommen, sie zu hören. Mit ihrer weichen, dunklen Stimme hatte sie gelesen, brüchiger jetzt, aber noch immer fest. Eine Stimme, in die man sich fallen lassen konnte, und man fiel nicht.

Auf der Chausseestraße deutet noch nichts auf Ausnahmezustand, der Verkehr geht ruhig, und selbst die Passanten, die immer wieder durch das Friedhofstor treten – es ist ein Schritt nur vom Reich der Lebenden zu dem der Toten – bilden nicht das, was man einen Strom nennt. Dieses Leise, die scheinbare Alltäglichkeit nicht aufschreckend, müsste ihr gefallen. Was sind Staatsbegräbnisse dagegen, gar mit militärischen Ehren?

Das ist ein Irrtum!, dachte nicht nur Christa Wolf, als Anna Seghers, ihre nahe Freundin und Mentorin, die viel Ältere, 1983 hier zu Grabe getragen wurde. Diese schmale, so zerbrechlich wirkende kleine Frau verschwand in der Selbstfeier der Lebenden.

In der Kapelle steht einer heller Holzsarg, bedeckt mit Rosen. Ob es ihr geht wie der Günderrode: „Als sähe ich mich im Sarg liegen und meine beiden Ichs starren sich ganz verwundert an.“ Dieses Wort der Dichterin hatte Christa Wolf ihrer wohl berühmtesten Erzählung „Kein Ort. Nirgends“ vorangestellt.

Zwei Ichs, die einander verwundert ansehen. In ihrem Fall ist das erste wohl das, was jene, die ihr nah waren, nur „Christa“ nennen. Mag sein, auch für sich war sie fast immer „Ich, Christa“, nicht Christa Wolf. Noch am Abend zuvor hatte ihre Freundin, die spanische Malerin Nuria Quevedo darüber nachgedacht, wie beide beständig wechselten. Nuria Quevedo hat die Bilder zu Christa Wolfs „Kassandra“ entworfen, als das Manuskript noch gar nicht fertig war. Ihre beiden Ichs verdrängten einander nicht, löschten sich nicht gegenseitig aus.

Der nicht zu kleine Platz vor der zu kleinen Kapelle füllt sich. Es fehlt nicht viel, und Heiner Müller hätte einmal mehr recht: Die Welt ist nicht böse, hat er gesagt, sie ist zu voll. Auf dem Grab des Blumenfeinds Müller liegen heute keine Zigarren, im Aschenbecher an seiner linken Ecke steht das Regenwasser. Heiner Müller und Christa Wolf, zwei Dezembertote.

„Nimm dein Verhängnis an/ lass alles unbereut.“ Es ist Corinna Harfouchs Stimme, die aus den Lautsprechern vor der Kapelle dringt. Drinnen sind Familie und nahe Freunde, darunter Günter Grass, Nuria Quevedo, Gregor Gysi, Friedrich Diekmann; draußen ist ein kleines Meer aus Regenschirmen. Volker Braun, der nahe Freund, der Mit-Schreibende, sagt, dass er nie ihren Anruf quer über den Ozean vergessen wird. Es war ein Ruf der Not: Ihr Körper entferne sich von ihr, genau wie die Zeit. Das war Anfang der 90er Jahre, als die Misstrauensanträge gegen alles, was sie war und wurde, durch alle Zeitungen gingen. Panik der Selbstauflösung. Die beruhigenden Worte des Freundes. Eine wie du kommt sich nicht so leicht abhanden.

Der Regen fällt: Als solle es ihr schwer gemacht werden, bis zuletzt

Aus vielen Gesichtern hier spricht ein verwandtes Verstehen: Die Menschen haben ihr nicht zuletzt darum so tief vertraut, weil sie sich selbst kannte. Darum zuletzt hatte sie der Gestalt Kassandra vertraut, so wie diese Seherin ihr entgegenkam aus dem Dunkel der Geschichte. „Man warf ihr das Hierbleiben vor“, sagt Braun, ihr, die so weit gegangen war, weiter als viele andere, bis an die Ursprünge des Menschseins, des europäischen Menschseins. Und vertraut wurde mit dem, was man „die Innenseite der Weltgeschichte“ genannt hat. Sie war nicht vernunfthell, sie war dunkel.

Der Regen fällt immer dichter aus dem Grabplattenhimmelgrau. Wie anders hätte der Himmel sein sollen, den sie am Tag ihres Todes sehen wollte. Sie hat ihn beschrieben, als sie „Kassandra“ fand: ein Himmel, „der die Landschaft beherrscht, blau grundiert. Kumuluswolken. Wolkenstreifen darüber, in einer anderen Höhenschicht“. Und dazu alle Nuancen von Grün, die sie am 28. April 1981 in ihrem Mecklenburger Garten wahrnahm. Das ist ihr verweigert worden, schon an ihrem Todestag, einem der wenigen trüben in diesem Sonnenspätherbst. Als solle es ihr schwer gemacht werden, bis zuletzt. Keine Verklärung. Immer wieder klingt Schuberts „Winterreise“ durch den Regen und den starken Wind: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus …“

„In ihrer Nähe wurde alles weit“, sagt Volker Braun und Jana Simon, lange auch Autorin dieser Zeitung, wiederholt es – aus der Sicht der Enkelin. Viele haben sich unter den Schutz der Bäume geflüchtet, die auf den Gräbern wachsen. Die Lebenden suchen Schutz bei den Toten. In ihrem Fall gibt nicht der Himmel Weite und Obdach zugleich, es ist noch immer sie selbst.

Und doch war sie nicht allein, nie ein Solitär, wie sich Männer oft denken. Jana Simon sagt auch das: „Für mich gehört ihr zusammen“, Gerhard Wolf und Christa Wolf. Sie könne sie nur zu zweit denken. Bis zum letzten Tag hat Gerhard Wolf für seine Frau gekocht. Befragt nach dem Geheimnis dieser Ehe, haben sie gesagt, dass da immer noch etwas gewesen sei, was sie einander geben konnten.

Und dann wird sie getragen, vorbei an den Gräbern der anderen, der Vor-Denker und -Dichter. Die Brüder und Schwestern vom „unglücklichen Bewusstsein“, die DDR-Versehrten, die Desillusionierungsgemeinschaft, bilden die vielleicht größte Kommune auf diesem Friedhof. Kein Wort Hegels ist ihr so nah gewesen wie das vom „unglücklichen Bewusstsein“. Dem „unglücklichen Bewusstsein“ entspricht nach Hegel „eine entzwei gegangene Wirklichkeit“. Wie sehr haben die, die auf diesem Friedhof liegen, versucht, neue Ganzheiten zu denken, Überwinderganzheiten, ja, den Überwinderstaat. Und sind doch, jeder auf seine Weise, zurückgefallen an die „entzwei gegangene Wirklichkeit“. Sie wohl am radikalsten: nicht überwinden. Aushalten!

Gerhard Wolf hat seiner Frau nicht nur eine Grabstelle gesucht, sondern eine Heimat: nahe bei Stephan Hermlin, bei Günter Gaus und bei ihrem alten Leipziger Lehrer Hans Mayer. „Man sah den Wegen am Abendlicht an, dass es Heimwege waren“, hatte Hermlin gesagt.

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