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Innen, Tag. Der Kutscher (János Derzsi) und seine Tochter (Erika Bok) schweigen. Draußen tobt ein Sturm, der nicht mehr aufhören wird.

© Basis-Film

Béla Tarrs letzter Film: Reise ans Ende der Welt

Das muss wohl wirklich das Ende der Welt sein, meines und deines und unseres sowieso: Béla Tarrs „Das Turiner Pferd“ ist eine betörende Kinoerfahrung.- mit nur 29 Einstellungen in 146 Minuten.

Am zweiten Tag sehen wir zum ersten Mal ihr Gesicht, es ist ein schönes, junges, von Arbeit und Wetter gegerbtes Gesicht mit klaren Augen und einer ausgeprägten Nase. Die Haare hat sie hinter die Ohren gesteckt, es sind struppig lange Haare, wie sie ohne Scheitel fallen nach einer Zeit. Ihre Haare haben wir schon am ersten Tag des, wie sich herausstellen wird, sechstägigen Sturms gesehen, als sie draußen vor der Kate mit ihrem Vater das Pferd ausspannt im Wind, und sie wehen in dem heftigen Wind wie die Pferdemähne, nur das Gesicht sehen wir nicht oder noch nicht genug. Das geschieht erst am zweiten Tag, und plötzlich finden wir es hell in der Kate.

Ich schreibe „wir“. Man will zusammenrücken, wenn man diesen Film von Béla Tarr sieht, zusammenrücken gegen den Wind, der einen zu erfassen scheint, gegen die Kälte, gegen die sich auch die beiden da auf der Leinwand nur mit vielen Kleiderschichten schützen, der Kutscher braucht die Kleider, wenn er aufsitzt auf seinem Pferdekarren, die Tochter braucht sie, Schicht um Schicht, wenn sie morgens hinausgeht die Kate zum Brunnen, ihr langsames Ankleiden sehen wir zum ersten und einzigen Mal am dritten Tag. Man will zusammenrücken gegen die Langsamkeit auch, die einen wie die Kälte erfasst und umspinnt und einspinnt wie die trägen, wenigen, sich fortwährend wiederholenden Akkorde aus Cello oder Orgel oder Akkordeon oder einem unverwechselbar schleifenden Mischmasch aus diesen dreien, die Musik, die immer ertönt, wenn man fast vergessen hat, dass das hier ein Film ist und nicht das langsamste, unumkehrbarste Ende der Welt.

Ich schreibe „man“. Weil es das Zusammenrücken noch weiter ins Allgemeine treibt; weil es den spärlich besetzten Kinosaal mit Menschenwärme füllt, nicht nur mit den trockenen Blättern, die die nicht endenden Windstöße herunterwehen von der Leinwand, nicht nur mit dem Staub eines langen, trockenen Winters in der Puszta, der so baumarmen ungarischen Weite, diesem Staub, der einem in die aufgerissenen Augen weht. Ich, man, wir wohnen einer höchst ungewöhnlichen Kinoerfahrung bei, nur 29 Einstellungen bei 146 Minuten, alles in einem betörend ausgeleuchteten Schwarz-Weiß, du kannst die Einstellungen mitzählen, an dreimal zehn Fingern minus eins, und jetzt sage ich auch noch „du“. Und nur in der allerletzten, ausnahmsweise kurzen Einstellung leuchtet ein anderes Licht, ist es ein fernes Höllen- oder Himmelsfeuer, denn es jetzt entzündet sich auch das Petroleum nicht mehr, ja, das muss wohl wirklich das Ende der Welt sein, meines und deines und unseres sowieso.

Geschichten vom Weltenende sind gerade Mode, und ist es nicht so, dass das Kino manchmal die Realität vorauserfindend vorausahnt? Dann müsste die Zeit reif sein, nach Lars von Triers „Melancholia“ zum Beispiel, nur tobt da kein Sturm, sondern Blitze fahren in die Überlandleitungen, während der so schöne, fremde Planet immer näher kommt. Oder wie in Terrence Malicks „The Tree of Life“, wo die Wirklichkeit kleiner Leute gleich ganz ins Kosmische aufgelöst war. Oder wie in „Take Shelter“ von Jeff Nichols, ab nächste Woche im Kino, da plagt einen Familienvater die Vision eines planetenvernichtenden Orkans, der heranjagt übers Meer – also, wenn ich und du und wir es ganz eilig haben mit dem Weltuntergang, der nächste Film wartet schon!

Béla Tarrs „Das Turiner Pferd“ aber ist der stillste. Der Film, der vielleicht am schwersten auszuhalten ist, wegen dieser Langsamkeit und der Stille. Der Vater also, irgendwo heißt es, er heiße Ohlsdorfer, lebt mit seiner erwachsenen Tochter in der Kate am Ende der Welt. Sein rechter Arm ist lahm, sein rechtes Augenlid lahmt, seine Tochter kleidet ihn an und aus, seine Tochter macht die Wäsche, kümmert sich um das Feuer im Ofen, kocht Kartoffeln, und eigentlich sollte der Vater gleich wieder aufsitzen auf dem Bock seines Karrens und das Pferd hinaustreiben, irgendwelche Aufträge scheinen seine Arbeit zu sein. Aber das Pferd weigert sich, er schlägt auf es ein auf dem staubigwindigen Vorplatz vor der Kate, aber es weigert sich, und das ist das zweite oder ist es das dritte Vorzeichen, es weigert sich so störrisch wie ein Esel.

Ist es das Pferd, das am 3. Januar 1889 in Turin von seinem Droschkenkutscher geschlagen wurde? Jenes Turiner Pferd, dem Friedrich Nietzsche schluchzend um den Hals fiel, jener Nietzsche, der darob verrückt wurde und fortan umnachtet blieb elf Jahre lang bis zu seinem Tod? Wohnen wir einem nachgetragenen Dokumentarfilm bei, der sich des späteren Schicksals jenes zu trauriger Berühmtheit gelangten Pferdes annimmt bis auch zu des Pferdes Ende? Aber müsste der Kutscher dann nicht Giuseppe, Carlo oder Ettore heißen und nicht Ohlsdorfer, dessen Name, jetzt recherchieren wir aber hartnäckig, bei Google nur mit einem Hamburger Friedhof nebst Stadtteil in Verbindung gebracht wird?

Fragen über Fragen, die keinerlei Antwort erfordern. Ich stelle sie wahrscheinlich nur, weil ich sprechen will, nachdem ich 146 Minuten lang dem Wind zugehört habe und ein paar Wörtern der beiden Figuren, die so eindrucksvoll von János Derzsi und Erika Bok gespielt werden, wie die beiden überhaupt schon in manchen Béla-Tarr-Filmen mitgespielt haben bis zu diesem, von dem Béla Tarr unnachgiebig behauptet, es werde sein letzter sein. Das erste Wort von den wenigen, die gesprochen werden, ist „fertig“, die Tochter sagt es, als sie das Essen zubereitet hat, und auch am zweiten Tag sagt sie nur „fertig“, als die Schüssel mit den Kartoffeln auf dem Tisch steht, den Kartoffeln, die sie mit den Händen essen an ihrem Ende der Welt, und der Vater hat dafür ein Ritual, das ich auswendig kenne seitdem. Kein Wunder, ich habe dort gewohnt in der Kate 146 Minuten lang, ich war der Vater und die Tochter und das sterbende Tier und, nicht zu vergessen, der Wind.

OmU im fsk am Oranienplatz

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