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"Die größte Sensation des Kinos ist das menschliche Gesicht in Großaufnahme", sagte Ingmar Bergman. Bibi Andersson und Liv Ullmann spielen in "Persona" aus dem Jahr 1966 eine Krankenschwester und eine Schauspielerin, die nicht sprechen will.

© AB Svensk Filmindustri

Bergman-Retrospektive: Wie in seinem Spiegel

Erst spüren, dann verstehen: Die Retrospektive der Berlinale 2011 ist dem schwedischen Regisseur Ingmar Bergman gewidmet.

Manchmal rühren einen Filme unmittelbar an, treten heraus aus der Projektionsfläche der Leinwand und über in die eigene Welt.

Das Kino von Ingmar Bergman gilt zu Unrecht als kopflastig, denn die Filme des 2007 gestorbenen schwedischen Meisters wecken mehr Erinnerungen an sinnliche Empfindungen als an intellektuelle Höhenflüge. Karena Niehoff beschrieb 1961 im Tagesspiegel „Die Jungfrauenquelle“ als einen „Nahangriff auf das Gefühl“. In Stig Björkmans Dokumentation „Ingmar Bergman in 8 Scenes“ berichtet ein erstaunter Martin Scorsese, dass er „Szenen einer Ehe“ (1973) eher über ein Flirren in der Magengrube wahrgenommen habe als mit den Augen. Und in einem „Playboy“-Interview erklärte Bergman zu seinem Skandalfilm „Das Schweigen“ (1963): „Ich will, dass das Publikum meine Filme spürt. Das ist für mich viel wichtiger, als dass es sie versteht.“

In einer der Kritiken, die Bergman unter Pseudonym über seine eigene Arbeit geschrieben hat, monierte er, dass „dieser Bergman“ zu viele Filme gemacht habe, die wie typische Bergman-Filme aussehen. Was einen typischen Bergman-Film ausmacht, hat sich in seiner Karriere mindestens viermal gründlich gewandelt. Anfang der Fünfziger wurde sein Film „Durst“ von einem deutschen Filmhändler so lanciert: „Unterleib, Unterbewusstsein und Lebensangst“.

In „Durst“ verschränken sich zwei Handlungsstränge. Es beginnt 1946 in der Schweiz. Rut und Bertil sind auf der Heimreise aus den Sommerferien. Rut erinnert sich an ihre Affäre mit einem Armeeoffizier, der sie geschwängert, die Vaterschaft geleugnet und sie zu einer überstürzten Abtreibung gedrängt hat – weshalb sie nun unfruchtbar ist. Auf der langen Zugfahrt gen Norden, nach Schweden, durchpflügen Rut und Bertil die kümmerlichen Reste ihrer Beziehung.

Unterdessen leidet Bertils manisch-depressive Ex-Geliebte Viola unter einem ihrer psychischen Extremzustände. Nachdem sie die Zudringlichkeiten ihres Psychiaters mühsam abgewehrt hat, trifft sie die lesbische Valborg, eine alte Freundin von Rut. Verzweifelt erwehrt sich Viola auch der Avancen Valborgs, stürzt aus ihrer Wohnung und wandert wie in Trance in Stockholm an den Kais entlang, bevor sie – wie Berit in „Hafenstadt“ – ins Wasser springt. Bertil träumt unterdessen, dass er Rut getötet hat. Beim Erwachen klammert sich das Paar aneinander.

François Truffaut sagte über Bergmans frühe, noch ungelenke Filme, sie seien „hinreißend, angestrengt, mächtig, unerbittlich – und Herausforderung sowie Vergnügen für unsere Intelligenz.“ Das hat Bergman mit den Filmen von Max Ophüls gemeinsam: dass sie von größter erzählerischer Lust geprägt sind, selbst bei größtem erzählten Schmerz.

Die aufregendsten Momente von Bergmans Kinos sind die eklatant unspektakulären. Der Blick von Harriet Andersson in „Die Zeit mit Monika“ (1952), der erste, lange Blicke einer Schauspielerin direkt in die Kamera, ein Regelverstoß gegen das Illusionskino,der den Zuschauer zum Komplizen macht. In solchen Momenten scheint das Kino wie verwandelt, von einer Sprache der Nachahmung zu einer Sprache der Meditation. Bergman hat häufig davon gesprochen, dass er in der Aufnahme eines Gesichts die größte Herausforderung sieht.

Im Herbst 1964 leitete der Regisseur ein Symposium über Schauspielerführung an der damals neu gegründeten Schule des Svenska Filminstitutet. Er illustrierte seinen Vortrag mit drei Sequenzen in Großaufnahme aus „Wie in einem Spiegel“, „Licht im Winter“ und „Das Schweigen“ – jenen drei Filmen, die später seine religiöse Trilogie genannt wurden: „Für mich ist und bleibt die Großaufnahme, die richtig beleuchtete, die richtig instruierte und gespielte Großaufnahme des Schauspielers der Höhepunkt der Kinematografie. (...) Plötzlich auftauchende Gedanken, Blut, das ins Gesicht schießt oder entweicht, zitternde Nasenflügel, plötzliches Erbleichen oder dumpfe Stummheit, das ist für mich das Ungeheuerlichste und Faszinierendste, was es gibt.“

Gesichter und Gesichte auch in „Persona“ (1966). Der Film wird gerne genannt, wenn es um das Gemeinsame von Film und Psychologie geht. Ein Werk allerdings, das sich mehr musikalisch-strukturellen Erwägungen verdankt als einem Erzählen nach Mustern des psychologischen Realismus. Bergman nannte den Film „eine Sonate für zwei Instrumente“ – wobei das Musikalisch-Rhythmische sich als roter Faden durch viele seiner Filme, zieht, durch „Herbstsonate“, „Die Zauberflöte“, „Sarabande“ und andere.

In „Persona“ übernimmt die Krankenschwester Alma (Bibi Andersson) die Pflege der offenbar psychisch gestörten, in Isolation und Schweigen versunkenen Schauspielerin Elisabeth Vogler (Liv Ullmann). Die beiden Frauen sehen sich sehr ähnlich, und geraten in eine symbiotische Abhängigkeit und werden füreinander (wie für die Zuschauer) zu spiegelbildlichen Varianten ihrer Selbst.

Die eine, Alma, spricht sehr viel. Eigentlich plappert sie. Die andere, Elisabeth, sagt ein einziges Wort – in dem Augenblick, als Alma, aufs Äußerste gereizt durch Elisabeths hochmütiges und beharrliches Schweigen, ihr kochendes Wasser ins Gesicht schütten will. In jähem Entsetzen schreit ihr Elisabeth „Nein“ entgegen. Die Kritikerin Frieda Grafe analysierte den Moment so: „Es ist kein Wort, das Elisabeth sich entschlossen hätte zu sprechen. Es ist explodierende Sprache. Sprache, so wie Artaud sie sich wünschte und von der er meinte, dass es sie in europäischen Schauspielen nicht mehr gäbe, weil dort die Darsteller über lauter Reden vergäßen, dass sie einen Körper hätten und ein Organ zum Sprechen.“

Körper und Geist und deren Nöte, zusammenzukommen: Das ist genuines Bergman-Terrain. Dazwischen, ganz groß, die Seele. Und obendrüber die Metaphysik – ein Etikett, das Bergmans Filmen gern anhaftet. Für den Regisseur selbst ein klares Missverständnis: „Die Menschen in meinen Filmen sind genau wie ich selbst: Triebwesen, die bestenfalls dann denken, wenn sie reden. Der Körper ist der größte Teil, mit einer kleinen Ecke für die Seele.“ Das redet keinem Primitiv-Materialismus das Wort, sondern sortiert bloß die Sinne zueinander auf neue Weise. Regie-Kollege François Truffaut ging in der Situierung des großen Schweden aufs Ganze – und nannte Bergman eher einen physischen denn metaphysischen Filmemacher.

In seinem letzten Film, „Sarabande“ (2003), diesen „Szenen einer Ehe, dreißig Jahre danach“, treten noch einmal die vom Regisseur so häufig beschworenen Dämonen seiner eigenen Vergangenheit auf. Die letzte Szene zeigt einen alten Mann (Erland Josephson) in seiner Nacktheit, körperlich und emotional, einem Kind gleich, das sich in seinem Alleinsein fürchtet. Endlich spannt Bergman seine Dämonen nicht mehr vor den Streitwagen der Kunst. „Sarabande“ ist ein perfekter Abschied: ein Aufbruch ins Offene.

Ralph Eue

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