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Altrosa und gelb. Frauenkirch im Winter (Ausschnitt), 1918 von Ernst Ludwig Kirchner gemalt.

© Staatliche Museen/Jörg P. Anders

Berlin im Schnee: Flindrikin und Feefle

Schnee hat keine Farbe, denn Eiskristalle sind transparent. Und doch scheint er vielfarbig zu sein. In Berlin wie in den Schweizer Bergen.

Samstagnachmittag im Hamburger Bahnhof. Plaudernde Menschen lassen sich durch das Museum der Gegenwart treiben. Sommerlich warm leuchten im Erdgeschoss die Installationen der türkischen Künstlerin Gülsün Karamustafa. In der Ernst Ludwig Kirchner gewidmeten Ausstellung „Hieroglyphen“ (noch bis 26. Februar) im Obergeschoss jedoch liegt Schnee. Auf dem Gemälde „Frauenkirch im Winter“ lässt er ein Dorf bei seinem Schweizer Wohnort Davos im Abendrot rosa aufglühen. Das ist 1918 eine neue Komponente im abstrakten Farbenspiel aus Weiß und Blau, das die Graubündner Landschaft in den Wintermonaten beherrscht.

Wieder draußen auf der Invalidenstraße ist die Stadt eine andere geworden. Dunkelheit fällt auf Neuschnee. Er knirscht unter den Füßen. Der kalte Wind peitscht feuchte Flocken ins Gesicht. Schneegriesel ist die Schwester von Graupelschauer und beide sind sie Kinder von Väterchen Frost und der Eiskönigin. Der Bettenturm der Charité verschwindet im nassen Dunst. Busse sausen schmatzend über Asphalt. Straßenlaternen, Scheinwerfer, Freiflächen leuchten schwefelgelb. Die Flocken dämpfen das Licht. Nie war die Invalidenstraße so dunkel, steinern, abstrakt. Berlin? Nein. Das hier muss eine osteuropäische Metropole in einem Agententhriller sein. Vielleicht Moskau zu Beginn der Achtziger.

Die Schotten kennen 421 Wörter für Schnee

Schnee ist ein großer Abstrahierer. Er schluckt vertraute Formen und Farben. In den Bergen schafft er eine altrosa, in der Stadt eine schwarzweiß-gelbe Welt. Das Gerücht, dass die Inuit 200 Wörter für Schnee kennen, hat sich längst als moderne Legende entpuppt. Die Schotten, weiß eine Studie der Uni Glasgow, haben mehr. 421 fanden die Forscher in der schottischen Sprache. Dazu zählen „flindrikin“ für einen leichten Schauer und „feefle“ für herumwirbelnden Schnee.

Und in Kirchners Davos residiert mit dem Institut für Schnee- und Lawinenforschung die weltweit renommierteste Flockenuntersuchungsanstalt. Hier testen sie die Materialeigenschaften der Dendriten genannten, meist sechsarmigen, millimetergroßen Eiskristalle. Jedes der häufig sternförmigen Wunderwerke ist transparent. So wie das Wasser, aus dem sie gefroren sind. Sie reflektieren und diffundieren das Licht, weswegen der Schnee weiß erscheint. Oder altrosa und gelb.

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