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Das Berlin Music Week-Zentrum im Postbahnhof am Ostbahnhof.

© dpa

Berlin Music Week: Liebes Label, böses Label

Leidenschaftlicher Auftakt bei der Berlin Music Week-Konferenz "Word!" und ein zerfaserter erster Festivaltag bei First We Take Berlin.

Lüge, Sauerei, Betrug! Das Podium zur Eröffnung der Berlin Music Week-Konferenz „Word!“ im Postbahnhof ist noch gar nicht richtig wach, da redet sich Dieter Meier schon mächtig in Rage. Er wettert gegen die „oberreaktionäre Musikindustrie“, die ihre Künstler über den Tisch ziehe wie zu Zeiten der frühen Beatles. Erst habe sie dreißig Jahre lang auf dasselbe Medium gesetzt, sich nie für dessen Klangoptimierung interessiert und treibe jetzt Schindluder beim Streaming. „Selbst wenn du fünf Millionen Streams hast, kannst du davon nicht mal deine Wasserrechnung bezahlen“, sagt der Yello-Sänger und schickt noch eine Tirade gegen die Intransparenz der Abrechnung bei Spotify und Co. hinterher.

Der 69-jährige Musiker hofft auf eine Gegenbewegung der Künstler, etwa einen Zusammenschluss nach dem Vorbild des Filmstudios United Artists. In der von Nina Sonnenberg sehr schlicht moderierten Runde („Wie spürst du gerade so die Musikindustrie?“) mag niemand recht auf Meiers Beitrag eingehen. Dafür sagt der anschließend geladene Kulturstaatssekretär Tim Renner ein paar erhellende Worte zur Beteiligung der Plattenfirmen an Spotify. Und fordert die Marktteilnehmer auf, sich untereinander zu einigen. Die Politik könne da nicht eingreifen. Aber: „Wer sich verarschen lassen will, ist selber schuld.“ Es ist Renners erste Music Week als Kulturstaatssekretär, wobei er gleich anmerkt, dass die Zuständigkeit für Popmusik beim Senatskanzleileiter Björn Böhning bleibt. Schließlich sei er noch an Motor Music beteiligt und wollte keine Interessenkonflikte heraufbeschwören.

Renners Vortrag über „Kulturpolitik und Popmusik“ ist größtenteils ein Remix seiner bekannten Positionen: Räume für Künstler und Musiker in der Innenstadt müssen geschützt werden, bei Liegenschaftsverkäufen soll auf kulturelle Nachnutzung geachtet werden, Bühneninszenierungen per Livestream verfügbar sein und die alte E- und U-Kultur-Unterscheidung zugunsten des Begriffspaares Underground und Exzellenz aufgegeben werden. Die Rede weckt keine übersteigerten Erwartungen, beruhigt aber irgendwie. Es ist ja immer zu schön zu hören, dass man im Rathaus der Meinung ist, „dass diejenigen, die Berlin sexy gemacht haben, nicht auf der Strecke bleiben dürfen.“

Zur zweitägigen „Word!“-Konferenz unter dem leicht krampfigen Motto „Music Released“ haben sich 3500 Delegierte angemeldet, 1000 mehr als im vergangenen Jahr. Und tatsächlich wirken die Veranstaltungsräume belebter als bei den Vorgängerausgaben. Etwa beim Panel zum Thema „Label 3.0“ mit Macher/innen unabhängiger Musiklabels. Hier sitzen Idealisten wie Thorsten Lütz von Karaoke Kalk, die ohne Zweitjob nicht über die Runden kämen, sich aber voll für ihre Künstler reinhauen. Oder Fritz Krings, der mit seinen beiden Brüdern Peripherique betreibt: „Wir sind drei Mal pro Jahr pleite, weil wir immer alles Geld in eine Sache stecken,“ sagt er. Etwas ruhiger geht es bei Motor Music zu, wo man sich als Dienstleister der Bands versteht. Diese müssen nicht wie in früheren Zeiten alle ihre Rechte abgeben, um einen Vertrag zu bekommen. „Heute ist der Künstler der Chef, nicht das Label“, sagt Petra Husemann Renner von Motor Music.

Entdeckung. Die schwedische Sängerin Seinabo Sey.
Entdeckung. Die schwedische Sängerin Seinabo Sey.

© Universal

Die Bands der drei Labels sind bei Streaming-Diensten vertreten. Ob Dieter Meier sie deshalb zur „oberrreaktionären Musikindustrie“ zählen würde? Oder City Slang? Das Berliner Indie-Label, das am Abend die große Postbahnhof-Bühne des First We Take Berlin-Festivals kuratiert? Wäre komisch, denkt man, die gehören doch zu den Guten, betreuen Bands teilweise seit Jahrzehnten. Gerade steht Cheri MacNeil mit Dear Reader auf der Bühne. Sie ist seit 2009 bei City Slang, freut sich sichtlich über den Auftritt, lobt das Publikum auf Deutsch – und langweilt leider etwas mit ihrem braven Folk-Pop. Fulminant hingegen im Anschluss Ahmed Gallab mit seiner Band Sinkane. Die vier Musiker starten einen psychedelischen Groovetrip, der erst an Yeasayer erinnert, dann dubbig und funky wird, um schließlich bei der Country-Doop-Woop-Verbindung von „Mean Love“ zu landen, dem Titelstück von Sinkanes starkem neuen Album. Zwischendrin sagt Gallab: „Ich habe eine besondere Beziehung zu dieser Stadt, denn hier sitzt mein europäisches Label City Slang. Ich liebe sie sehr!“ Also doch die Guten.

Der Postbahnhof ist nur halb voll, noch weniger Besucher finden sich zu Beginn des Abends im Glashaus ein. Das auf über 15 Bühnen in Friedrichshain-Kreuzberg verteilte Newcomer-Festival, das am heutigen Samstag weitergeht, zerfasert wie schon bei seiner Premiere 2013 sehr. Immerhin läuft es auf der Radio-Eins-Bühne im Lido richtig gut für Seinabo Sey. Die 23-jährige Stockholmerin, die mit einem knallroten Gospelgewand auftritt, begeistert mit ausdrucksstarkem Soulgesang zu treibenden Electrosongs. Hier kommt zum ersten Mal das Gefühl auf, eine echte Entdeckung gemacht zu haben.

Richtig voll ist es derweil abseits des Festivals im Magnet, wo Caspar, K.I.Z. und Kraftklub spielen. Tim Renner ist auch da, er postete auf Facebook: „Wirklich nichts gegen Oper, Theater und Orchester, aber das habe ich schon ein bisschen vermisst.“

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