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Fabi Geda Marco, Magnone: Staub geboren. Die Stadt der Vergänglichen. Ein Roman aus dem Berlin der 70er Jahre - ohne Erwachsene.

© Ueberreuter

Berlin ohne Erwachsene: Kinder an der Macht

Rückkehr der Wilden: Der Roman „Staubgeboren“ von Fabio Geda und Marco Magnone spielt 1978 in einem Berlin ohne Erwachsene

Dreißig Kilometer, 36 Minuten. Ungefähr. Ohne Stau. Am besten über die A 115. Empfiehlt der Routenplaner. Christa, Nora und Britta, drei Heldinnen des alternativ-historischen Berlin-Romans „Staubgeboren“ brauchen für den Weg von der Pfaueninsel nach Gropiusstadt hingegen die ganze Nacht und fast den ganzen Vormittag. Weil sie, abgesehen vom Überqueren der Havel per Kanu, laufen müssen. Weil es keine Autos mehr gibt. Weil U- und S-Bahnen schon lange nicht mehr fahren. Weil Berlin jetzt wieder Wildnis wird.

Nur ein paar Mal stoppen die Mädchen unterwegs. Um zu verschnaufen, um ihre mitgebrachten Radieschen zu essen. Und um ein Sprung Rehe vorbeizulassen. Straße für Straße, Haus für Haus hat die Natur die Stadt zurückerobert. Hunde streifen in Rudeln umher. Ein Tiger soll aus dem Zoo ausgebrochen sein. Die Begegnung mit einer Wildschwein-Rotte kann für einen Menschen tödlich enden. Niemand ist da, um die Übriggebliebenen zu retten. Denn Berlin ist in dem Roman der beiden italienischen Autoren Fabio Geda und Marco Magnone, der den Untertitel „Die Stadt der Vergänglichen“ trägt, ein Ort ohne Erwachsene.

Alle Volljährigen sind tot, innerhalb von wenigen Monaten von einem Virus ausgelöscht. Das Buch spielt 1978. Der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft liegt vier Jahre zurück. Jakob kann sich noch gut an das Johlen und Klatschen erinnern, das er im Olympiastadion mit seinem Vater erlebt hat, als Breitner im Spiel BR Deutschland gegen Chile das 1:0 erzielte, „ein krachender Schuss außerhalb des Strafraums“. Jetzt ist der Vater tot, der Deutsche Herbst von 1977 fand nicht statt. Und wer von den Überlebenden 18 oder 19 Jahre alt wird, den holt das Virus. Die Toten werden auf einem Scheiterhaufen verbrannt.

Bücher, in denen Kinder die Macht übernehmen, sind inzwischen ein eigenes Genre, angefangen mit Jules Vernes Robinsonade „Zwei Jahre Ferien“, die William Golding mit seinem Südsee-Abenteuerroman „Herr der Fliegen“ ins Dystopische steigerte. Das Buch taucht in „Staubgeboren“ ein paar Mal auf, wie zur Warnung davor, dass Menschen in einer Umgebung ohne Recht und Gnade schnell zu Wilden werden können. Leben besteht nur noch aus Überleben, und da ist sich jeder der Nächste. Es gibt keine Elektrizität, kein fließendes Wasser mehr, die Vorräte aus den Supermärkten sind längst aufgebraucht. Die Restberliner ernähren sich von Beeren, einigen Gemüsesorten und Trockenfleisch, das von selbst erlegten Tieren stammt.

Der Grenzwechsel hat seinen Schrecken verloren

Einziger Halt, einzige Hoffnung sind Freundschaften. Die Kinder und Jugendlichen haben eine neue Art des Zusammenlebens erfunden, irgendwo zwischen Großfamilie und Stamm. Ihre Banden heißen Tegel-, Zoo-, oder Gropiusstadt-Gruppe. Die Reichstag-Gruppe residiert im düster-dunklen Parlamentsgebäude, das nach „Mörtel, Kohlenrauch und Schweiß“ riecht. Ringsum gibt es außer einer riesigen verwilderten Rasenfläche nichts. Nur die Mauer, die an einigen Stellen mit Gerüsten verkleidet ist, zum leichteren Drüberklettern. Dort geht es nicht mehr von einem System zum anderen, nur von West nach Ost. Der Grenzwechsel hat seinen Schrecken verloren.

Einen Kalten Krieg gibt es trotzdem: den zwischen den Jugendgruppen. Der Modus des Zusammenlebens reicht von Kooperation über Koexistenz bis zum Kampf. Die Lage eskaliert, als die Tegel-Gruppe ins Quartier der Havel-Gruppe, dieses „lächerliche weiße Schloss auf der Pfaueninsel“, eindringt und den zweijährigen Theo entführt. Er wurde geboren, als das Virus bereits die meisten Erwachsenen getötet hatte, seine schwangere Mutter aber immun war. Die Tegel-Kinder sehen in ihm ein „Kind des Todes“ und wollen mit ihm ein Fest feiern.

Während ihre Eltern, zwei Ärzte, 1975 im Klinikum Steglitz gegen das Virus kämpfen, liegt Christa zu Hause auf dem Teppich und hört Pink Floyd. Die Mutter schenkte ihr eine Mappe mit lateinischer Widmung: „Tecta Lege Lecta Tege.“ Eine Aufforderung, die Wahrheit hinter allen Lügen zu suchen. Und das perfekte Motto für ein überaus spannendes Retro-Science-Fiction-Buch, das in einem Schaukampf gipfelt. Die Tribute von Tegel.

Fabio Geda, Marco Magnone: Staubgeboren. Die Stadt der Vergänglichen. Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt. Ueberreuter, Berlin 2017. 213 S., 14,95 €. Ab zehn Jahren.

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