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Berlin-Roman: Kalter Krieg, heiße Nächte

Von den Wilmersdorfer Witwen bis zu Christiane F.: Der junge Berliner Schriftsteller Thilo Bock erzählt in seinem Provinzroman „Senatsreserve“ vom West-Berlin der achtziger Jahre.

Im West-Berlin der achtziger Jahre machen sich zwei windige Lokalreporter daran, einen Skandal aufzudecken. Warum wird beim Bau der U-Bahnlinie 8 ein Bogen um das Märkische Viertel in Reinickendorf gemacht? Und was hat ein ehemaliger SPD-Schatzmeister damit zu tun? Die Story soll ihr Durchbruch werden. Bei den Recherchen geraten sie jedoch in die ebenso aufregende wie gefährliche Berliner Halbwelt und bekommen zunehmend Schwierigkeiten, Arbeit und Privates zu trennen. Sie entdecken ein stillgelegtes Bergwerk, in dem Gauner abgezweigte Vorräte aus der Senatsreserve zum illegalen Weiterverkauf lagern und lassen sich ohne viel Gegenwehr in einen Strudel aus Prostitution und Alkohol ziehen. Ihre Geschichte, der sie tatsächlich auf den Grund kommen, dürfte unterdessen in den Wirren um den Fall der Berliner Mauer verpuffen.

Der Leser von Thilo Bocks Roman „Senatsreserve“ erfährt davon allerdings schon nichts mehr. Denn ein etwas klamaukiger Vorfall, fast ein klassischer Gott aus der Maschine, rettet die Reporter des „MV Kuriers“ erst aus ärgster Bedrängnis und beendet dann diese wirklich famos erzählte Geschichte, in der die untergegangene großstädtische Insel West-Berlin die Hauptrolle spielt. So viel sei vorweg verraten: Dieses Buch ist hochgradig unterhaltsam.

Die Senatsreserve war nach der Berlinblockade von 1949 angelegt worden, um das Leben in der isolierten Stadt auch im erneuten Ernstfall aufrechterhalten zu können. „Womöglich war dies ja das, was uns Westberliner zusammenschweißte: Unser Wissen um ein gemeinsames Geheimnis, die Gewissheit, dass uns nie etwas fehlen würde, nicht einmal frische Unterhemden, denn auch die hatte unser fürsorglicher Senat ausreichend gebunkert." Thilo Bock, am nördlichen Rand West-Berlins aufgewachsen und heute hauptberuflich Lesebühnen-Autor, kennt sich merklich aus in der Stadtgeschichte. In seinem amüsanten Plot um den kettenrauchenden und leichtlebigen Redakteur Horn und seinen Praktikanten, dem manchmal etwas arroganten Studenten Gruber, aus dessen Perspektive erzählt wird, gelingt ihm Erstaunliches. Wie nebenbei flicht er in den Ablauf der Handlung immer wieder historische Fakten ein und zeichnet gekonnt die idyllische und zugleich kosmopolitische Atmosphäre dieser kuriosen Stadthälfte nach. Hier lagen alle Gegensätze so nah beisammen, dass sie ineinander übergingen, sozusagen von den Wilmersdorfer Witwen zu Christiane F.

In diese Verwicklungen stolpern auch Bocks Helden kopfüber hinein. Normalerweise beschäftigen sie sich mit öden Presseterminen im Märkischen Viertel, dieser in die Höhe gewachsenen Wüste aus jenem farblosen Beton, aus dem auch die direkt angrenzende Mauer besteht. Dann aber landen sie plötzlich Undercover im kriminellen Milieu. Als sie einem offenbar nicht ganz so honorigen Parteifunktionär investigativ nachspionieren wollen, geraten sie an eine Rotlichtbirne, mit dem sie eine Art freundschaftliche Geschäftsbeziehung eingehen, deren fragwürdigen Vorteile sich insbesondere Horn gern gefallen lässt. „Das Ergebnis seiner jüngsten Recherchen trug Horn in Form einer übel riechenden Fahne vor sich her.“ Alles für die Story: „Sie waren ja Profis. Oder so was in der Art.“

Gleichzeitig verstrickt sich Kompagnon Gruber in amouröse Komplikationen. Hier kippt das Buch und entwickelt sich von den im Untertitel postulierten „Provinzorten“ beinahe zu einem Großstadtkrimi. Thilo Bock ändert plötzlich die Erzählperspektive und schafft damit vermeintliche Distanz zum Geschehen. Ein schöner Trick, ergeben sich durch ihn doch neue Fragen und Blickwinkel, die die Spannung hoch halten, ohne den jovialen Ton des ersten Teils zu verlieren.

Krimi, Großstadtroman, Lokalhistorie – „Senatsreserve“ ist Unterhaltungsliteratur mit Anspruch, ein kurzweiliges Lesevergnügen mit echten Berliner Charakteren aller Couleur. Und ganz nebenbei wird hier sehr spannend Stadtgeschichte erzählt: Verkehrsplanung und Stadtentwicklung, Kalter Krieg und heiße Nächte. In seiner atmosphärischen Präzision dürfte das selbst Eingeborene beeindrucken. Wer bislang wenig über die einzelnen Stadtteile Reinickendorfs wusste, kann sogar noch was lernen. Trotzdem wird „Senatsreserve“ nie spröde oder verliert sich in Details. Jede Information stellt sich nach und nach als Teil eines Puzzles heraus, Zusammenhänge ergeben sich von selbst. Thilo Bock ist glücklicherweise kein Erklärer, der seine Leser bevormundet.

Schade ist eigentlich nur, dass das Ende etwas erzwungen wirkt, was angesichts der ansonsten so geschickt konstruierten Story ein wenig verwundert. Hier entsteht leider der Eindruck von Eile und Ideenlosigkeit. Warum Bock zudem – statt West-Berlin oder des amtlichen Berlin (West) – die offizielle DDR-Schreibweise „Westberlin“ wählt, die seinerzeit als Affront sowohl gedacht war als auch so aufgefasst wurde, bleibt sein Geheimnis. Vielleicht ist das sein Entgegenkommen an die heutige Leserschaft, die in ihrer Mehrheit all die Befindlichkeiten der damals hoch sensiblen geteilten Stadt nicht mehr unbedingt kennt. Das wäre nicht nötig gewesen. Dieses Buch muss keine Zugeständnisse machen, es funktioniert auch so ganz vorzüglich.

Thilo Bock: Senatsreserve. Ein Provinzroman. Frankfurter Verlagsanstalt, 2011. 317 Seiten, 19,90 €.

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