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© The Match Factory

Berlinale: Der Wald vor lauter Bäumen

Die stärksten Filme dieser 60. Berlinale sind die stillsten – und die Jury beweist dafür sicheres Gespür.

In einem unlängst in der „Zeit“ erschienenen Interview definierte Werner Herzog wunderbar temperamentvoll, was große Kunst vom großen Rest unterscheidet. Dabei wetterte er eigentlich gegen die Psychoanalyse. „Jeder dunkle Winkel unserer Seele“ werde heutzutage „unbedingt ausgeleuchtet“, sagte der Jury-Präsident der Berlinale. Aber „eine Wohnung, die bis zum letzten Winkel ausgeleuchtet ist, wird unbewohnbar.“

All jene, die die Psychoanalyse von schwerem Leiden erlöst hat, werden Herzogs Philippika zu Recht widersprechen. Aber auf das Kino umgemünzt, passt sein scharfes Wort genau. Gute Filme sind, im übertragenen Sinn, nicht perfekt ausgeleuchtet, sondern lassen dunklere Winkel, die durch die individuelle Zuschauerfantasie und -intelligenz Form und Leben gewinnen. Gute Filme irritieren durch Auslassung und Andeutung und inspirieren so zur Interpretation.

Mit offenbar entspannt einhelliger Sicherheit hat Werner Herzogs Jury nun genau jene Filme mit Berlinale-Bären geehrt, die eben diesen Raum eröffnen. Am exaktesten seinem Postulat dürfte „How I Ended This Summer“ entsprechen, Alexej Popogrebskis großartiges, mit gleich zwei Preisen bedachtes Kammerspiel um zwei Männer in arktischer Einsamkeit. In einer heruntergekommen meteorologischen Beobachtungsstation mitten in einer atomar verseuchten und doch majestätisch kargen Landschaft entwickelt der Regisseur mit minimalen Mitteln ein Seelendrama, wie es extremer kaum sein könnte: Erst gibt der junge dem alten Kollegen die lapidare Funkspruch-Nachricht vom Tod seiner Familie nicht weiter, und als er es dann doch tut, kommt es zu einem grausamen Krieg der beiden Männer am Ende der Welt. Nichts wird auserzählt, alles ist in den faszinierenden Bildern und Bewegungen und Gesten enthalten – und löst sich in einem extrem reduzierten und gerade deshalb erschütternden Finale auf.

Auch „Bal“ – der türkische Regisseur Semih Kaplanoglu nahm den Goldenen Bären wunderbar glückstränenschimmernd entgegen – lässt dem Zuschauer jenen essenziellen Raum des Ungesagten, Unerklärten, der die kreative Begegnung mit einem Kunstwerk erst ermöglicht. Die Katastrophe des Vaterverlusts, die über ein sechsjähriges Kind und seine Familie hereinbricht, vollzieht sich in betörend schöner Natur und maßloser Stille. Auch Rafi Pitts’ „Zeit des Zorns“, bei der Bärenvergabe leer ausgegangen, gehört in diese Reihe: Der brutale Racheakt des Helden, dessen Frau und Tochter bei Teheraner Straßenprotesten erschossen wurden, löst eine Turbulenz aus, deren schweigendes Zentrum er selbst bildet. Wieder ist es eine absichtsvoll unausgeleuchtete Figurenzeichnung, die irritiert und zur Debatte inspiriert.

Die unruhige Welt von Osteuropa – zwei Preise gingen an das packende rumänische Gefängnisdrama „If I Want to Whistle, I Whistle“ – bis Vorderasien hat die bemerkenswertesten Beiträge dieser Berlinale hervorgebracht, und in ihnen finden sich auch am subtilsten deren Leitmotive wieder: Von einsamen Männern, aber auch vernachlässigten Frauen und verlorenen Kindern erzählen die Filme – und von der Familie als Zuflucht oder auch als prekärem, selber Einsamkeit erzeugenden Organismus. Und immer wieder wählen die Regisseure zum politisch-ideologisch-religiösen Humus ihrer Stoffe den Islam. In der überfamiliären Geborgenheit, die der Islam zur Abwehr von Krisen- und Entfremdungserfahrungen anbietet, liegt allerdings auch die Gefahr: Sein Regelwerk unterdrückt alle, in erster Linie die Frauen.

Jasmila Zbanic, Berlinale-Siegerin von 2006, hat mit „Na Putu“ hierzu den entschiedendsten Beitrag geliefert. Am Beispiel einer ganz im westlichen Hier und Jetzt lebenden jungen Frau macht sie den Sauerstoffschwund einer Beziehung spürbar, als der geliebte Partner sich dem religiösen Eiferertum öffnet. Allerdings statuiert Zbanics dynamische Studie letztlich nur ein Exempel – politisch zwar, aber vor allem: politisch korrekt.

Mit Werner Herzog könnte man sagen: zu ausgeleuchtet das Ganze. Oder auch: überbelichtet. So hell, dass die Bilder ins Weiße übergehen. Viele Filme dieses Festivals litten an dieser Überoffensichtlichkeit. Wie Glucken brüten sie ihren Gegenstand aus und sitzen dann bis zum Abspann drauf. Das gilt für den unglücklichen Single Greenberg in Noah Baumbachs gleichnamigem Werk wie für die vom Schicksal geschlagenen Brüder in Thomas Vinterbergs „Submarino“, auch kommt Benjamin Heisenbergs „Räuber“ trotz dramaturgisch verdoppelten Dauerlaufs nicht wirklich von der Stelle. Oder Natalia Smirnoffs argentinisches Puzzle „Rompecabezas“: Ist erst einmal das matte Licht gesetzt, bewegt sich die Story in nahezu lähmendem Trott voran.

Die oft genug löbliche Moral von derlei Geschichten lässt sich meist in einem Allerweltssatz zusammenfassen. Doch je massiver solche Filme zum Ab- und Wegnicken ein Festival dominieren, desto deutlicher leidet dessen Attraktivität insgesamt. Die 60. Jubiläumsberlinale hatte mit Wang Quan’ans zarter Familiengeschichte „Tuan Yuan“ schon bescheiden angefangen, und die Höhepunkte blieben rar. Markiert wurden sie zudem nicht durch große Namen, die ohnehin die Vitalität des Weltkinos dokumentieren, sondern durch wenig bekannte Regisseure. Vor allem der Abstand zu Cannes, dem Hauptrivalen, dem man in den ersten Jahren der Ära Kosslick nahezu ebenbürtig war, hat sich empfindlich vergrößert.

Filme, so sagen Branchenexperten einhellig, werden heutzutage vor allem für Cannes fertig, dessen gigantischer angeschlossener Markt mit knapp 10 000 Akkreditierten auch den Wettbewerb gierig beäugt. Für Venedig werden sie insofern fertig, als das Herbstfestival am Lido dem Oscar-Schaulaufen in Toronto und dem American Film Market (AFM) vorausgeht. Der Wettbewerb der Berlinale ist für Einkäufer dagegen nur mehr beschränkt attraktiv. Hinzu kommt: Dessen kommerziell zugkräftigste Titel laufen in der Regel ohnehin schon Ende Januar auf dem Festival in Sundance.

Schon jetzt listen die Branchenblätter jene Regisseursnamen auf, die mit ihren Filmen – nicht eben zufällig – für Cannes fertig sein könnten. Sie reichen von Sofia Coppola über Terrence Malick zu Alejandro Gonzales Iñarritu, von Abdellatif Kechiche über Julian Schnabel zu Abbas Kiarostami, von Jodie Foster bis Robert Rodriguez zu Woody Allen und Mike Leigh. Schwer vorstellbar, dass sich künftig einer dieser prominenten Namen des Weltkinos in die Nachbarschaft mancher jener Geringfügigkeiten verirrt, die Jahr für Jahr auf dem Berlinale-Programm stehen.

Kein Wunder, dass immer deutlicher Kritik nicht nur am schwungvollen, aber cineastisch weniger versierten BerlinaleChef Dieter Kosslick laut wird, sondern auch am Sachverstand der Auswahlkomitees. Übersehen sie, angesichts Tausender von Einreichungen und zahlreicher Sichtungsreisen, die wirklich guten Sachen? Oder werden, nicht weniger besorgniserregend, der Berlinale Filme einer gewissen cineastischen Größenordnung gar nicht mehr angeboten?

Dieter Kosslick, Impresario des Festivals bis 2013, begegnet diesen Malaisen am unermüdlichsten mit dem Hinweis auf den Publikumserfolg. Wieder ist die Zahl der verkauften Tickets gestiegen, auf rund 300 000. Das freut die Geldgeber, den Bund ebenso wie die Sponsoren, zudem ist dieser Rekordzuspruch ein Alleinstellungsmerkmal. Allerdings macht in dieser Hinsicht das Glamour-Festival von Toronto, das selber mit einer filmbegeisterten Millionenstadt im Hintergrund punktet, Berlin heftig Konkurrenz. Das Glas also – halb leer oder halb voll? Halb. Und das ist das Problem. 

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