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An Doktor Mikumos freiem Tag bricht in Shibuya Minorus "Doctor's Day Off" das Chaos über seine Familie herein.

© Shochiko Co.

Berlinale-Forum: Striptease & Kabuki

Trunkenbolde, Killer, boxende Professoren: Das Forum zeigt acht Filme des Japaners Shibuya Minoru. Ein buntes Vergnügen, vor allem, weil der Regisseur munter zwischen den verschiedenen Genres hin- und herspringt.

Das seit 30 Jahren verheiratete Ehepaar liegt sich endlich wieder in den Armen. Zuvor war der Mann plötzlich verschwunden, zwei Wochen lang. In der Aufregung, die so etwas mit sich bringt, versicherte die Frau immer wieder standhaft, dass er zurückkommen werde. Dieses Vertrauen hindert sie freilich nicht daran, ein paar Nadeln in eine Figur an der Wohnzimmerwand zu stecken, um so ihrem Mann auf die Sprünge zu helfen. Ein Schnitt später, 500 Kilometer weiter, und der Trick funktioniert: Wie der Blitz fährt’s dem Mann in Kopf und Beine, das führt zu groteskem Veitstanz, gymnastischen Verrenkungen und dem Entschluss, schnellstens zurückzukommen. Familienzauber und Voodooslapstick.

Das ist das versöhnliche Ende von „The Radish and the Carrot“ des Regisseurs Shibuya Minoru. Die Entdeckung dieses neuen Altmeisters des japanischen Kinos bietet das Forum mit einer Reihe von acht seiner Filme. Insgesamt drehte er ab 1937 über 40 Filme für das Studio Shochiku, für das auch Ozu und Mizoguchi gearbeitet haben.

Ähnlich wie Ozu beginnt auch Shibuya im Genre des Shomin-geki, das die häuslichen Probleme von Mittelklassefamilien zeigt. Hierzu gehören etwa die Alltagsdramen, mit denen der Arzt in „Doctor’s Day Off“ (1952) ausgerechnet an seinem Urlaubstag konfrontiert wird und die ihn mehr als strengen Vater und Rechtsbeistand fordern denn als Mediziner.

Der Mathematikprofessor in „A Good Man, a Good Day“ (1961) ist wie der leitende Angestellte in „The Radish and the Carrot“ (1965) seriöser Herr, autoritäres Familienoberhaupt und angesehenes Mitglied der Gesellschaft mit unverhohlener Neigung zu Alkohol und dramatischen Ausbrüchen. Beide Rollen spielt RYU Chishu. Wenn er sich als Professor aus einem Bücherberg herausgräbt und die langen Arme und Beine sortiert, wirkt er wie die japanische Ausgabe eines Monsieur Hulot. Erst recht, wenn sein Streit mit einem Schüler zu einem Kampf mit Boxhandschuhen eskaliert und er gleich beim ersten Haken formvollendet mit einer Rolle rückwärts auf dem Boden landet.

Das Drehbuch von „The Radish and the Carrot“ basiert auf einer Geschichte Ozus. Doch von dessen Kontemplation über die Rituale des Alltags unterscheidet sich Shibuyas Stil. Jazzmusik, Mode, Unterhaltung – es gibt bei ihm viele westliche Einflüsse. Eine ärmliche Hütte ist mit einem Starfoto von Katharine Hepburn geschmückt. Eine Zuschauerin vergleicht eine Striptease-Show mit dem Kabuki- Theater. Eine Bar heißt „N’est ce pas“ und sieht auch so aus, ein Junge wird von seiner Freundin mit Gregory Peck verglichen und sieht nicht so aus. Und ein Call-Girl kriegt den Auftrag, so unschuldig auszusehen wie Audrey Hepburn, wofür sie noch viel üben müsse. Shibuyas Happy Ends haben einen doppelten Boden, der Zusammenhalt in den Familien schwindet, sein Blick auf die Gesellschaft ist satirisch, seine Figuren verhalten sich exzentrisch.

„Modern People“ (1952) etwa entwickelt sich in atemberaubendem Tempo zu einem tiefschwarzen Melodram, in dem der junge Held in einen Sumpf von Gier, Korruption, Mord und Sex gerät. Er nimmt schließlich alle Schuld und die Todesstrafe auf sich. „The Shrikes“ (1961), eine Vogelart, die „Neuntöter“ oder „Raubwürger“ genannt wird, steht als Metapher für das, was Mutter und Tochter einander antun können. Die Farben des Films wirken wie die verlockende Verpackung des vergifteten Inhalts: wie Menschen einander hassen können, die sich eigentlich lieben, wie jede freundliche Geste als Hochmut, jedes Lächeln als Heuchelei, jede Annäherung als Angriff ausgelegt werden, bis sie das tatsächlich sind.

Der Titel „Drunkard’s Paradise“ (1962) ist der reine Hohn, denn zwei starke Trinker, Vater und Sohn, sind der Hölle näher. Nicht der Alkohol spielt die Hauptrolle, sondern die Schwarz-Weiß-Choreografie, die Bildästhetik einer kalten Architektur mit Wohnsilos und Bars, Reklamewänden und von der Technik zerstörten Landschaften. Darin sind die Menschen nirgendwo heimisch, sie sitzen einsam auf Treppen oder streunen ziellos herum, bandeln miteinander an oder stoßen sich ab, flirten oder fallen in hektischen Umarmungen übereinander her und haben sich nichts zu sagen. Die Figuren gleiten durch die geometrische Strenge der Großstadt ohne Spuren zu hinterlassen und scheinen in der Leere zu verschwinden.

Und dann „The Days of Evil Women“ (1958), wieder ein irreführender Titel, denn die Männer sind hier keinen Deut besser als die Frauen. Einer protzt mit seiner Kraft, seinen Frauen, seinem Geld und seiner Villa. Die hat es in sich: An diesem Schauplatz mit verwinkelten Treppen, dunklen Gängen, ausgestopften Großkatzen und einer Wand voller Gemälden, die wie Parodien auf europäische Impressionisten wirken, versammelt sich die gegnerische Bande. Die Maitresse, ihre Tochter, ein Neffe und zwei Killer. Der eine ist auf einem Auge blind, der andere hat immerhin sein Handbuch „Wie werde ich ein erfolgreicher Hit Man“ dabei. Diese Schar will den Kerl aus dem Weg räumen, steht sich dabei aber immer selbst im Weg. Jeder spielt jedem etwas vor, jeder hält jeden in Atem, so wie der Regisseur den Zuschauer, indem er ständig den Ton ändert und alle möglichen Genres durchspielt: Familienklamotte, schwarze Komödie, Mystery-Drama, B-Movie bis hin zum Showdown in großer Western-Kulisse.

11. bis 18.2., 14 Uhr (Delphi); 12. bis 19.2., 22 Uhr (Cinestar 8)

Helmut Merker

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