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Was für ein Typ bist du? In Katharina Peters’ Dokumentation „Man for a Day“ schlüpfen Frauen in Männerrollen.

© Inga Knölke

Berlinale: Perspektive Deutsches Kino: Zu viel Welt

Alle wollen weg: Wandern aus, gehen ins Heim, wechseln das Geschlecht. Die Spielfilme der Perspektive Deutsches Kino feiern die Langsamkeit – die Dokumentationen machen Tempo.

Knapp dreihundert Erst- und Zweitfilme standen für den elften Jahrgang der Nachwuchsreihe zur Auswahl – sechzig mehr als 2011. „Was nicht zwangsläufig heißen muss, dass ich viel mehr gute Filme gesehen habe“, sagt Sektionsleiterin Linda Söffker. Es habe gedauert, bis sie ein Gefühl für das Programm bekommen habe. Die Qual der Wahl.

Acht Spielfilme und fünf Dokumentationen hat Söffker ausgewählt. Und es sind – interessant! – die Dokus, die Tempo machen, die mit den erzählerischen Mitteln experimentieren, die nicht nur ein Thema haben, sondern auch dafür arbeiten, dass es beim Zuschauer ankommt. Bestes Beispiel ist „This ain’t California“ von Marten Persiel, ein rasanter Film über die Skaterszene in der DDR, eine Geschichte über Freund- und Leidenschaft. Spektakuläre Originalaufnahmen, höchst sympathische Protagonisten, wunderbar melancholische Animationen – eine jugendkulturell erhebende, menschlich bewegende und oft lustige Seh-Erfahrung.

Allein: Die Bezeichnung „Doku“ führt in die Irre. Einige der als Zeitzeugen auftretenden Figuren sind offenbar gecastete Darsteller – die aber reale Geschichten erzählen. Hier hätte eine Offenlegung der Methode nicht geschadet – fürs Zuschauergefühl, ernst genommen zu werden.

Auch Matthias Stolls „Sterben nicht vorgesehen“, ein liebevoller dokumentarischer 25-Minuten-Essay über den plötzlichen Krebstod des Vaters, arbeitet mit Animationen, puzzelt mit Familienfotos und Dokumenten. Das Thema des Films, das Leben und die Lücke darin, ist groß genug für die kleine Strecke. Hier ist nichts spektakulär, aber alles berührend.

Ein bisschen so wie Alice Gruias „Rodicas“, die ihre Großmutter und deren beste Freundin porträtiert. Zwei Rumäninnen mit gleichem Vornamen, die sich gegenseitig die größte Stütze sind, wenn sie sich auch bisweilen auf die Nerven gehen. Emigration und Heimat, tote Ehemänner und lebendige Präsidenten, Eisessen und Handlesen – ein charmanter, warmherziger, humorvoller Film.

Frauenpower, Männerpower. Für „Man for a Day“ hat Katharina Peters einen Workshop der Gender-Aktivistin Diane Torr begleitet. Hier lernen Frauen, ihr Rollenrepertoire zu erweitern: Wir alle spielen uns – wie spielt frau einen Mann? Und was für einen überhaupt? Peters manövriert den Zuschauer souverän durch Theorie und Praxis, verliert trotz acht Protagonistinnen, eingeschaltetem Archivmaterial und Extra-Interviews nie den Überblick. Dagegen gibt Marion Hütters „Dichter und Kämpfer“ zwar Einblicke in die Poetry-Slam-Szene, führt aber weder das Thema für Uneingeweihte nachvollziehbar ein, noch gibt es eine erhellende Struktur. Als Erklärung der Slam-Subkultur ist die Doku unbefriedigend.

Die Spielfilme. Am Jahrgang 2012 fällt zunächst auf: die Langsamkeit. Die Stille. Lange, wortkarge Szenen, quälende Nicht-Dialoge, in der Luft hängende Fragen. Verständigung findet selten statt. In „Westerland“ etwa, dem Regiedebüt des Berliner Autors Tim Staffel, hat ein ungleiches Sylter Jungspaar echt gar nichts zu sagen – der Zuschauer leidet mit.

Auch Jan Speckenbach erzählt in seiner Parabel „Die Vermissten“ von Sprachlosigkeit. Lothars Tochter verschwindet, dann bemerkt er: Auch andere fehlen. Die Kinder hauen ab, massenhaft, organisiert. Sollen die Erwachsenen, diese Atomkraftwerksprüfer und lahmen Lehrer, doch ihren Kram alleine machen!

In Julian Pörksens „Sometimes we sit and think and sometimes we just sit“ haut ein Erwachsener ab. Ein 50-Jähriger zieht ins Altenheim, auf den Sessel, Vorhang zu. Darf der das? Ist der verrückt? Muss der nicht entmündigt werden? Die größten Schwierigkeiten mit Aussteigern haben die, die weitermachen wie gehabt.

Manchmal geht es nicht weiter, das zeigt eindringlich Janis Mazuchs Kurzfilm „Tage in der Stadt“. Nach Jahren aus der Haft entlassen, verliert die 39-Jährige Nina sich in der Freiheit. Und Joachim Schoenfeld zeigt in „Gegen Morgen“, wie Wagner, der knurrige Bulle, langsam keine Lust mehr hat auf seinen Job, seinen Kollegen, seine neue Geliebte – zu viel Welt für ihn. Ab nach Kanada.

Oder in die Türkei. In Engin Kundags mit unnötiger Arche-Noah-Ebene unterlegtem Halbstünder „Ararat“ kehrt ein „Deutschtürke“ zurück, um seinen Vater zu begraben – und mischt sich als Ersatzvater folgenschwer ins Leben seines Bruders ein. Auch Tamer Yigits und Branka Prlics „Karaman“ spielt in der Türkei, Filmsprache: Türkisch. In Anatolien prallen die Generationen aufeinander, aber am härtesten streiten die Jungen, die muslimische Studentin und ihr Bruder, der Metal-Fan. Er schwingt frustrierte Volksreden, sie will neu anfangen: in Deutschland. Manchmal muss man eine neue Sprache lernen, um sich verständlich zu machen.

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