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Jonathan Banks (l.) und Bob Odenkirk in einer Szene der zweiten Staffel der Serie "Better Call Saul".

© Ben Leuner/Netflix/ Network Entertainment LLC/Sony Pictures Television Inc./dpa

Berlinale Special Series: Breaking Great

Geheime Missionen, friedliche Scheidungen und ein böser Bruderzwist: Berlinale Special Series zeigt die Experimentierfreude des Genres.

Die Welt ist eine Serie, wenigstens die Fernsehwelt. Mehr als neue 400 Produktionen werden Sender und Streaming-Plattformen 2016 ausspielen. Berlinale Special Series zeigt sechs davon. Es ist ein Ausschnitt vom Ausschnitt und doch repräsentativ für das Exponentielle des Genres, die Experimentierfreude und den Einfallsreichtum der Macher. „Erzählerische und visuelle Entdeckungsreisen, die die gesellschaftliche Wirklichkeiten nicht aus den Augen verlieren“, beschreibt Berlinale-Direktor Dieter Kosslick das Kontingent; jedes andere Best of wäre auch ein Best of der „Film-Bücher“, wie Netflix-Gründer Reed Hastings die horizontal erzählte Serie preist.

Keine deutsche Produktion ist dabei. Einmal Pech, weil mögliche Festival-Kandidaten wie „Wanted“ (Amazon Prime) oder „Babylon Berlin“ (ARD/Sky) sich vor der Drehphase befinden; zum anderen verständliche Reaktion darauf, dass die Fernsehsender nach den ausgebliebenen Erfolgen für „Deutschland 83“ (RTL) und „Blochin“ (ZDF) – beide feierten Premiere bei der Berlinale 2015 – nicht so recht wissen, was dem „linear" ausgebildeten Episoden-Zuschauer zugemutet werden kann.

Think big, shot big

Der Typ aus „Better Call Saul - Season 2“ wäre keine Überforderung. Der erfolglose Pflichtverteidiger Jimmy McGill (Bob Odenkirk) kommt im fortgesetzten Prequel zur Über-Serie „Breaking Bad“ seinem zwielichtigen Alias-Anwalt Saul Goodman näher, nahe kommt er ihm noch nicht. Vince Gilligan und Peter Gould, Kreateure und Showrunner, setzen unverändert auf aufreizend lange Einstellungen, auf dialogisches Schweigen in Albuquerque/New Mexico. Es wird noch immer nicht geschossen, es geht immer noch nicht um Crystal-Meth-Millionen, noch immer nicht um fundamentale, gar existenzielle Entscheidungen.

Jimmy McGill will sein Ich in einem schönen Büro in einer angesehenen Kanzlei beschäftigt und befördert sehen. So sich hier eine Tragödie entwickelt, dann aus einem Durchschnittsleben. Gibt mehr als eines davon: Einer fährt mit einem Mega-Hummer durch die gleichförmigen Vororte, er wäre gern eine große Nummer und ist doch nur ein Hosentaschen-Dealer. Anders Jimmy und Mike Ehrmantraut (Jonathan Banks), der Parkplatzwächter. Sie haben die Zukunft vor sich, sie machen sich auf – „Better Call Saul“ bleibt sich treu: als die ironische, leichtfüßigere Variante von „Breaking Bad“.

Mikro oder Makro, das ist bei „The Night Manager“ nicht die Frage. Die sechs Folgen der Dramaserie verlangen biggest screen ever. Die BBC-Produktion, von David Farr nach dem gleichnamigen Roman von John le Carré ausgearbeitet, kann als Missing Link zwischen zwei Bond-Filmen gesehen werden. Der Exsoldat und smarte Hotelmanager Jonathan Pine („Thor“-Darsteller Tom Hiddleston) lässt sich vom britischen Geheimdienst M16 anheuern, um gegen den internationalen Waffenhändler Richard Onslow Roper (Hugh Laurie, besser bekannt als „Dr. House“) vorzugehen. Edle Motive mischen sich mit persönlichen, Roper hat Pines Freundin Sophie auf dem Gewissen, der aktuelle Konflikt im Nahen Osten schafft geopolitische Aufladung. Große Gefühle, große Gefahren, Pine gelangt undercover in Ropers innersten Zirkel, sehr schöne Frauen mit Bond-Girl-Touch, die Serie ist im Panorama-Stil gefilmt, sie ist auf höchste Gut-gegen-Böse-Spannung und Zuschauer-Überwältigung angelegt. Bei „The Night Manager“ zeigt sich, wie sich das Staunen des Publikums über die magischen Serien in eine Erwartung verfestigt hat. Die BBC-Serie tut alles, diese Erwartung zu erfüllen. Think big, shot big.

Zwischen Singlemutter und "happy divorce mission"

Was im Berlinale-Kontingent drinsteckt außer der enormen Vielfalt und Kreativität seriellen Erzählens, das ist die Freiheit der Format- und der Themenwahl. Und stets zielen auch die Mikrokosmen auf größere Zusammenhänge. Beziehungen sind dann nichts anderes als gesellschaftliche Bezüge.

Kann sich irgendeiner vorstellen, dass ein deutscher Schriftsteller wie Sven Regener den Briefroman einer Kollegin in ein Drehbuch verwandelt? Nick Hornby („High Fidelity“, „About a Boy“) hat's getan, er hat „Love, Nina“ von Nina Stibbe für die gleichnamige BBC-Produktion adaptiert. Vielleicht eine Frauenserie, Nina (Faye Marsay) kommt in den 1980er aus der Provinz nach London, um auf die beiden Kinder der Singlemutter George (Helen Bonham Carter, gerade als „Suffragette“ in den Kinos), sicherlich eine Culture-Clash-Perspektive, wie sich die Schulabbrecherin Nina durch die intellektuellen Bohème-Zirkel bewegt, wie sie mehr und mehr erkennt, was das Leben an großartigen Gelegenheiten für sie bereithält. Warmherzig als Feier von Freundschaft und Familie, skurril in den Miniaturen von Alltag und Festtag, aphrodisierendes Gin-und-Tonic-Fernsehen: „Love, Nina“.

Berlinale-Chef Dieter Kosslick bemerkte bei der Eröffnung der „Drama Series Days“ am Montag, was Skandinavier mit am liebsten tun: „Sie heiraten und sie trennen sich.“ Eine krachende Unterstellung? Also nicht für Dänen. Protagonisten und Produzenten der bittersüßen Comedy-Serie „Splitting up together“ haben das beim Screening-Termin samt und sonders bestätigt, vorneweg Meette Heeno, Kreatorin und Autorin der TV-2-Denmark-Produktion. Die 39-jährige Line (Maria Rossing) und der 35-jährige Martin (Peter Plaugborg) haben erst mal alles: schöne Haus, gute Jobs, zwei reizende Mädchen. Aber eines haben sie nicht: eine befriedigende Beziehung (das mit dem Sex hörte schon vor zwei Jahren auf). Also gehen sie auf „happy divorce mission“, was sich über Jahre verbunden und verfilzt hat, das soll schiedlich-friedlich wieder auf zwei Leben verteilt werden. Die Töchter als wichtigstes, Freunde und Verwandte als zweitwichtigstes Bindeglied. „Splitting up together“ fährt ein hohes Tempo, die Dialoge sitzen, Soundtrack und Hashtag-Inserts heben das eigentlich ernste Thema, doch nicht so hoch, dass sich der brutal ehrliche Blick auf die Midlife-Generation in rosafarbene Zirruswolken verliert. Trennung, das kann sein, als ob eine Atombombe ins Leben platzt.

Wer will ich sein?

Das eigene Leben als Klaustrophobie, genau das erlebt „The Writer“. Kateb (Yousef Sweid) sitzt fest in seinem Leben. Warum eigentlich? Er ist der gefeierte Autor des TV-Hits „Arab Labor“; okay, Frau und drei Kinder stressen, 24/7 ist ein Hamsterrad und zugleich eine riesige Fundgrube für die Drehbücher. Kateb – und damit die Fast-Real-Fiction-Serie von Keshet Broadcasting/Israel Broadcasting Authority – schaut dem eigenen Leben fest in die Augen. Soll er sein Leben nicht neu (auf-)schreiben? Was Sayed Kashua, Erfinder und Autor von „The Writer“, entwirft, das wird nicht wenige Thirtysomethings umtreiben. Hier in der israelischen Variante einer hybriden israelisch-palästinensischen Existenz, deren Blick tief nach innen geht. Wenn ich mehrere sein kann, welcher will ich sein?

Mikro wird Makro, die individuelle Frage weitet sich zur gesellschaftlichen in „Cleverman“, der australisch-neuseeländischen ABC-Vision von Ryan Griffin. Sogenannte „Hairypeople“ leben in streng kontrollierten Zonen, ausgegrenzt von den „Humans“. Unter all dem dramatischen Geschehen brodelt die Grundangstvor dem Fremden. Sie ist der Energiestrahl, auf dem „Cleverman“ die Geschichte der australischen Ureinwohner spiegelt. Nicht seminaristisch, sondern handfest. Koen West (Hunter Page-Lochard) wird gegen seinen Willen der neue „Cleverman“, der die feindlichen Welten ausbalancieren kann und gegen seinen Halbbruder Waruu West (Rob Collins) ausbalancieren muss. Abel gegen Kain, „Hairypeople“ gegen „Humans“, „Cleverman“ kann auch als Paraphrase der aktuellen Situation in Deutschland gesehen werden: Wo Flüchtlinge als Fremde beargwöhnt und abgelehnt werden.
Vince Gilligan („Breaking Bad“/„Better Call Saul“) sagt im Interview mit der „Welt am Sonntag“: „Ich schreibe über Menschen, deren Motivationen ich nicht komplett verstehe. Ich schreibe auch deshalb, weil ich sie verstehen will, und nicht etwa, weil ich etwas verstanden habe.“ Das Ergebnis nennt man Serie.
„The Writer“, 17.2, 15.30 Uhr (Haus der Berliner Festspiele); „Love, Nina“, 17.2., 18 Uhr (HdBF); „Splitting up together“, 17..2., 20.30 Uhr (HdBF); „The Night Manager“, 18.2., 19 Uhr (HdBF)

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