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Agathe Bonitzer als Entführungsopfer Gaelle.

© Les Films Hatari

Berlinale-Wettbewerb: Das Kellerkind

Nachdenken über Natascha Kampusch: Das französische Entführungs-Psychodrama „À moi seule“ mit Agathe Bonitzer im Wetttbewerb der Berlinale.

Nein, es geht nicht um das Stockholm-Syndrom, nicht um Gefühle, die Gaelle zu ihrem Entführer Vincent entwickelt. Es geht ums Entkommen. Seit acht Jahren lebt das Mädchen eingesperrt in Vincents Keller, tags liest sie und schläft, nachts lässt er sie raus. Sie kochen, essen, machen Schularbeiten und Waldspaziergänge, Vincent schlägt und vergewaltigt sie nicht, zumindest sagt er das. Alle sensationsheischenden Aspekte von Kindesentführungen spart Frédéric Videaus Film aus. Die einzige körperliche Verletzung, die ins Bild kommt, ist das blaue Auge, das sie ihm einmal verpasst. Und das Einzige, das Vincent seinem Opfer nicht lässt, ist die Freiheit. Bis er sie eines Tages laufen lässt. Ein langer Lauf über die Landstraße, die Kamera folgt ihr, sonst bewegt sie sich kaum.

Das Echo auf den Entführungsfall Natascha Kampusch von 2006 hallt zurzeit mehrfach im Kino wider. Die Münchner Constantin verfilmt Kampuschs Autobiografie, Ende Januar kam Markus Schleinzers Entführungsdrama „Michael“ ins Kino – und nun „À moi seule“. Ein Film über die Strategien des Opfers, darüber, wie die Gefangene sich ihre innere Freiheit erkämpft, um dem Täter jede Freude an seinem Tun zu verleiden. Chronik einer Emanzipation: Sie muss tricksen, manipulieren, simulieren – es ist ihre einzige Chance. Am Ende hat sie ihn in der Hand.

Und die Freiheit? Sieht aus wie die Unfreiheit. Gaelle muss sich vor den Reportern verstecken, kann sich mit der Mutter nur hinter vorgezogenen Vorhängen treffen und den Vater nur nachts besuchen. Das Psychiatrie-Gelände, ein Chateau mit Park, darf sie nicht alleine verlassen, obwohl sie fast 18 ist. Und wer immer mit ihr spricht, die Therapeutin, die Eltern, ein Freund, den wehrt sie ab. Sie ist einsam wie zuvor, ihre Welt gehört nur ihr allein, à moi seule. Zugang versperrt. Gefühle haben und zeigen, das kennt sie nicht.

Gaelle ist Agathe Bonitzer, Tochter der Regisseurin Sophie Fillières und des Drehbuchautors Pascal Bonitzer (ihre Tante Hélène Fillières spielt die Therapeutin). Der Film lebt von ihr, der Gratwanderung zwischen Verletzlichkeit und Härte, Kindlichkeit und Verschlagenheit. Bärenverdächtig! Die Kamera ruht auf ihrem bleichen, feinen, klaren Gesicht, ohne sie zu bedrängen. Wer in der Dunkelheit lebt, ist blass wie ein Vampir. Bonitzers Blässe hat etwas Undurchdringliches – und strahlt große Kraft aus. Und Reda Kateb leiht Vincent sein leicht ramponiertes Profil – ein Täter, dem nichts Monströses anhaftet.

Gaelle färbt sich gern die Haare, als Gefangene wie danach. Rot, brünett, weißblond – provisorische Identitäten, die sie regelmäßig verwirft. Auch das ist beeindruckend an diesem Film. Er lässt Gaelle die Freiheit, sich jedem simplen Verstehen zu entziehen.

11.2, 15 Uhr (Friedrichstadtpalast), 21.30 Uhr (Filmkunst 66), 19., 22.30 Uhr (International)

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