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Berlinale: Wo ich bin, ist oben

Die Retrospektive der Berlinale Shorts kennt musikalische Untermalungen, wie man sie unter den neuen Beiträgen beinahe vergeblich sucht. Stille ist der neue Sound. Die stummen Schreie sind die durchdringendsten. Und davon gibt es einige im diesjährigen Programm.

Von Maris Hubschmid

Früher war alles besser? Nein. Aber melodischer. Selbst die in Pia Frankenbergs „Der Anschlag“ von 1983 so großzügig verteilten Ohrfeigen wurden von fröhlichen Instrumentenklängen begleitet. Die Retrospektive der Berlinale Shorts kennt musikalische Untermalungen, wie man sie unter den neuen Beiträgen beinahe vergeblich sucht. Stille ist der neue Sound. Die stummen Schreie sind die durchdringendsten. Und davon gibt es einige im diesjährigen Programm.

25 Kurzfilme aus 15 Ländern hält der Wettbewerb bereit, aus über 2600 Einreichungen ausgewählt. Heute Abend werden die Preise verliehen. Zum ersten Mal ist Kroatien dabei. Zvonimir Juriks „Yellow Moon“ könnte repräsentativer für die Auswahl kaum sein. Was als oberflächliches, nachbarschaftliches Geplänkel bei einer Tasse Kaffee beginnt, entpuppt sich bald als persönliches Drama, endet für zwei Frauen in Tränen und unter einer Decke. Sich verkriechen wollen ist ein Bedürfnis, das aus vielen Filmen des Kurzfilmsegments spricht. Als seien sie geschaffen in Anlehnung an Else LaskerSchülers „Weltende“: „Komm, wir wollen uns näher verbergen. / Das Leben liegt in aller Herzen / Wie in Särgen.“

So ist das Leben, in Portsmouth, Ohio, etwa, wo April auf einem Schrottplatz arbeitet und Daphany den Tag hinter dem Tresen eines Fast-Food-Restaurants verbringt, ohne einen Kunden zu haben. Quälend eintönig ist ihr Alltag, außer wenn sie für den Zirkus üben – der nie den Weg zu ihnen finden wird. Im israelischen Film „Hayerida“ hingegen durchkämmt ein Paar wortlos die Gebirgswüste auf der Suche nach einem Grabstein für sein verstorbenes Kind.

Einsamkeit ist es, was fast alle Protagonisten eint. Manche wissen sich zu helfen. Andere nicht. Im japanischen „Aramaki“ erhängt sich ein Mann im Wald, nachdem er einmal das gefährliche Raubtier gegeben hat. In der Dokumentation „Geliebt“ zeigt Jan Soldat, welche Dimensionen Tierliebe annehmen kann, wenn ein Mensch unfähig ist, Menschen an sich zu binden. Äußerst berührend ist diese Arbeit, eine der im 60. Berlinale-Jahr auffallend starken deutschen Produktionen. Auf den Hund gekommen ist auch Daniel Nocke: Sein Werk „12 Jahre“ ist eine dreiminütige 3 D-Animation über eine Unterredung zwischen einem Dackel und einer Labradordame. Eine köstlich absurde Beziehungskiste, zuweilen erschreckend vertraut. „Ich muss mich künstlerisch gesehen regenerieren“ wirft einen kritisch-ironischen Blick auf das Filmbusiness. „Wo ich bin ist oben“ gibt Einblick in das Leben einer ichbezogenen alten Frau.

Der Kurzfilm war immer ein Format für Experimentierfreudige, einige der diesjährigen Kandidaten allerdings präsentieren sich als schier zusammenhanglose Aneinanderreihung von Szenen und Impressionen. Das belgische Horror-Potpourri „Long Live The New Flesh“ zum Beispiel. Ein klarer Special-Interest-Fall.

Regelrecht erfrischend dagegen die Geschichten, die auserzählt werden. Hervorstechend sind die rumänischen Beiträge. In „Derby“ dürfen wir uns für einen Mann fremdschämen, der sich ein peinliches Duell mit dem Jungen liefert, von dem er annimmt, er schlafe mit seiner Tochter. In „Colivia“ leugnet ein Vater lange sein Mitgefühl für einen kranken Vogel, den ihm sein Sohn nach Hause geschleppt hat. Als der Mann endlich weich wird, ist da nur noch der Käfig, den er streicheln kann. Da ist sie wieder, die innere Leere. Die sehnsuchtsvolle Seele. Die Einsamkeit.

Sehr passend für die diesjährige Zusammenstellung ist der Titel eines wieder aufgelegten Shorts von 1984 mit Hella von Sinnen: „Zum Glück gibt’s kein Patent“. Oder, wie es die alte Dame, die Großmutter der Regisseurin Bettina Schöller, in „Wo ich bin ist oben“ ausdrückt: Am Ende ist jeder allein.

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