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Berliner Brücken (7): Schnittstelle des Lebens

Vor dem Krieg war sie ein Prachtbau, nun ist die Potsdamer Brücke ein Verkehrsknotenpunkt. Aber einer mit Magie.

„Wendelin stand auf der Brücke und sah übers Geländer. Streifen von Mond- und Laternenlicht glitten auf dem Kanal. Er glaubte, im Wasser seinen Schatten zu sehen, Hut, Schulter und Umriss eines düsteren Gesichts.“ Genauso wie in Franz Hessels Novelle „Heimliches Berlin“ aus dem Jahr 1927 beschrieben, lässt es sich auch noch knapp 90 Jahre später erleben auf der Potsdamer Brücke. Noch immer fließt das Wasser dunkel und träge dahin, die Oberfläche gesprenkelt mit den herabgefallenen Blättern der Linden, die hier am Rande des Landwehrkanals stehen. Würde der charmante Taugenichts aus Hessels Großstadtroman allerdings heute den Kopf heben und um sich blicken, so wäre alles verändert. Ja, er würde sogar mitten im Wasser stehen, denn in der Zwischenzeit wurde das Bauwerk um einige Meter verschoben, die Potsdamer Straße begradigt, damit auf ihrem früheren Verlauf die Staatsbibliothek errichtet werden konnte.

Die Brücke selbst hat ihr Aussehen ohnehin vollkommen gewandelt. Eine Schönheit wie damals ist sie längst nicht mehr. In der benachbarten Staatsbibliothek gibt es kolorierte Postkarten zu kaufen, die illustrieren, wie der zweischenkelige Prachtbau der Ingenieurskunst 1905 aussah. Im Krieg wurde sie zerstört und in den sechziger Jahren rein zweckmäßig durch eine 44 Meter lange und 39 Meter breite Platte aus Spannbeton ersetzt. Die dreieckige Öffnung zum Wasser hin zwischen den Strängen der einstmaligen Doppelbrücke, die ihr den Spitznamen „größter Spucknapf von Berlin“ einbrachte, fehlt seit dem Wiederaufbau ganz. Das aufwendige schmiedeeiserne Geländer mit floralen Ornamenten von einst, an deren äußeren Enden vier Bronzestatuen auf Postamenten standen, ist einer schlichten, gelb gestrichenen Absperrung gewichen. Die kostbaren Kandelaber, die je von zwei Adlern eingefasst wurden, verschwanden ebenfalls. Simple Straßenlaternen spenden jetzt Licht.

Es ist laut, es ist windig, es stinkt nach Abgasen

Niemand hält sich hier länger als nötig auf, kein Flaneur schaut mehr sinnend dem Treiben auf dem Wasser und der Straße hinterher. Täglich passieren fast 35 000 Autos den wichtigen Verkehrsknotenpunkt. Entweder auf dem Weg zur Arbeit, zum Vergnügen oder zum Studium. Radfahrer flitzen so schnell wie möglich die sanfte Erhebung zur Brücke rauf und wieder runter gen Potsdamer Platz, Fußgänger auf dem Weg zur Stabi sind schon hier an ihren durchsichtigen Tüten mit der blauen Bibliotheksaufschrift zu erkennen. Den Blick haben die meisten fest auf’s Ziel gerichtet, den wie eine rettende Burg aufragenden Scharoun-Bau. Nur weiter, weg von hier. Diesem Nadelöhr zwischen der West-City, dem Potsdamer Platz und dem Regierungsviertel scheint jegliche Poesie abhanden gekommen. Es ist laut, es ist windig, es stinkt nach Abgasen. Und doch ist die Brücke ein magischer Punkt mitten in der Stadt, der immer noch seine Aura hat.

Dass Hessel seine kleine, einen Tag dauernde Geschichte um den adeligen Jüngling, der sich in 24 Stunden mehrfach verliebt und wieder entliebt, rund um die Brücke arrangiert, versteht man trotzdem sofort – auch wenn die meisten Gebäude rundum heute nicht mehr stehen. Die Brücke befindet sich an einem Scheitelpunkt, einer leichten Erhöhung. Als ob sich hier auch das Leben entscheiden könnte – in die eine oder andere Richtung.

Auf der einen Seite führt der Weg runter in die Potsdamer Straße, wo auf dem begrünten Mittelstreifen auf einem Findling das Denkmal für den Droschkenkutscher Gustav Hartmann steht, der als „Eiserner Gustav“ in die Berliner Geschichte eingegangen ist. Auf der anderen rüber zum Kulturforum, wo der gläserne Schrein der Neuen Nationalgalerie mit edler Leere prunkt. Die Turmspitze der Matthäikirche aus gelbem Backstein, das einzige erhaltene historische Gebäude auf dem gesamten Areal, erhebt sich gerade noch über dem Tempeldach des Mies- van-der-Rohe-Baus. „The View Berlin“ steht in großen Lettern an einem komplett entkernten Bau wenige Meter weiter am Schöneberger Ufer, wo exklusive Eigentumswohnungen entstehen. Auch der Club 40 Seconds im obersten Stockwerk des Eckhauses an der Potsdamer Straße wirbt mit seiner fantastischen Aussicht. Wer sich aber auf der Potsdamer Brücke einen Moment Zeit nimmt, erlebt schon von hier aus das Panorama und die Fülle der Möglichkeiten.

„Du wirst ja auch wiederkommen“, lässt Franz Hessel am Ende der Geschichte sein Alter Ego, den Gelehrten Clemens, zum jungen Wendelin sagen. „und mit uns wohnen in unserm heimlichen Berlin, hier im Alten Westen, an der Landstraße zwischen Rom und Moskau. Wir werden dann wieder an diesem Wasser gehn und von Erinnerungen und Hoffnungen reden, die sich im Kreise begegnen.“ Von jenem Alten Westen, der sich zwischen dem Landwehrkanal im Süden und dem Tiergarten im Norden erstreckt, ist kaum etwas geblieben. Nur der Kanal, der einstige Schaafgraben, hat überdauert. Vor 500 Jahren führte über den Graben an dieser Stelle als Erstes ein hölzerner Laufsteg. Die prachtvollen Wohnbauten rundum, wo der Kunsthandel residierte und seit einigen Jahren auch wieder hin zurückkehrt, wurden im Zweiten Weltkrieg entweder zerstört oder später abgerissen.

Vom alten Westen ist hier nichts mehr geblieben

In den letzten Kriegstagen sollte die Brücke noch einmal eine wichtige Rolle spielen. Von Süden her war der sowjetische Generaloberst Wassili Tschuikow mit seiner 1. Gardepanzerarmee bis zum Landwehrkanal vorgedrungen. Auf der anderen Seite der Potsdamer Brücke hatten sich deutsche Soldaten verschanzt. In einer Sturmfahrt nahm Tschuikow am 29. April 1945 die Brücke, zwei Tage später überreichen hier deutsche Parlamentäre die Erklärung, dass der Berliner Kampfkommandant General Helmuth Weidling aufzugeben bereit sei. An diesen Wendepunkt der Geschichte erinnert heute noch eine Gedenktafel, die einem besonders menschlichen historischen Moment gewidmet ist. Sie ehrt den Gardesergeanten Nikolai Iwanowitsch Massalow, der am 30. April ein weinendes Kind aus dem Kugelhagel zwischen den Frontlinien rettete. Seine Tat sollte Vorbild für das 13 Meter hohe Treptower Ehrenmal werden, das einen steinernen Soldaten mit Kind auf dem Arm zeigt.

Eine Rettung anderer Art stellt die Kunst im öffentlichen Raum dar, die sich gegenüber der Gedenktafel ans Geländer schmiegt: ein bronzener Ring, der exakt die Maße des unweit befestigten rot-weißen Rettungsreifens besitzt. Nicht vor Ertrinken soll Norbert Radermachers Werk retten, sondern vor dem alltäglichem Einerlei. Und zwar durch die kleine Verwirrung, dass er gar keinen praktischen Nutzen hat auf diesem dem Übergang gewidmeten Stück Straße. Seine Materialität erinnert an die vier bronzenen Denkmäler, die sich einst an den vier Ecken der Brücke befanden. Über diese Helden auf ihren Postamenten ist der Fluss der Zeit längst hinweggegangen. Nur unten, da fließt der Landwehrkanal noch immer dunkel und träge.

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