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Morgenliege. Hier sonnen die Leute sich bald unterm Drehstern.

© Thilo Rückeis

Berliner Dächer (2): Planschen auf dem Parkhaus

Ausblicke? Die gibt es oben immer. Doch in der Therme am Europa-Center kann man in den Himmel schwimmen. Der zweite Teil unser Sommerserie zu Berliner Dächern.

Irgendwie verortet man Thermen automatisch am Boden. Nahe der Erde. Gibt es da nicht eine Quelle, sprudelt da nicht heißes, heilendes Wasser von ganz tief unten? Bei den „Thermen am Europa-Center“ ist, berlintypisch, alles anders. In luftige Höhen geht's, mit dem Aufzug in den vierten Stock. Oben angekommen, grüßen Reliefs im griechischen Stil, auf denen schöne Menschen sitzen, reden oder miteinander ringen. Klar, Thermen sind etwas Uraltes, ein Geschenk der Antike an die Gegenwart. Der ganze Begriff kommt aus dem Griechischen, „thermos“ heißt „heiß“. In Rom waren Thermen das große Ding, ein Wissen, das leider verloren ging, als die strenge christliche Moral übernahm. Die Araber trugen es weiter.

Auch der Mitarbeiter, der die Schlüssel aushändigt, könnte mit seiner imposanten, ölgeglätteten Haarpracht direkt einem Sandalenfilm entsprungen sein. Drinnen fällt als erstes das zentrale Becken ins Auge: 420 Kubikmeter Wasser, konstant auf 32 Grad Celsius gehalten. Klassizistische Säulen und Statuen aus Gips variieren das Thema „Antike“ weiter. Allerdings mit einem Augenzwinkern: auch chinesische Drachen schmücken den Saal. Wir befinden uns auf dem Dach des Europa-Centers. Zwar nicht ganz oben auf dem Büroturm am Breitscheidplatz mit dem drehenden Mercedes-Stern, aber immerhin auf dem auch nicht niedrigen rückwärtigen Parkhaus an der Nürnberger Straße. Eine riesige verglaste Fensterfront erlaubt den barrierefreien Blick nach draußen. Der Clou: Man kann rausschwimmen, unter einer Brücke hindurch ins Freie. Das Wasser mit einem Salzgehalt von 0,5 Prozent glitzert blau-weiß, als umspülte es einen Eisberg. Jeden Augenblick könnte ein Wal um die Ecke biegen. Draußen gelangt man in einen langgezogenen, halbkreisförmigen Schlauch mit künstlichen Felsen und Wasserfällen an beiden Enden.

Hineingleiten ins blaue Nass

Dem Himmel näher fühlt man sich auf jedem Dach, das haben Dächer so an sich. Die Thermen am Europa-Center aber besitzen ein Alleinstellungsmerkmal: Hier gibt es Wasser. Wenn man hineingleitet ins blaue Nass, sich treiben lässt und dabei kurz in die Sonne blinzelt, fühlt es sich tatsächlich an, als würde man fliegen. Fliegen durch die City West. Die hat man von hier aus hervorragend im Blick. Und stellt fest: Wirklich kein einziges Gebäude stammt aus der Zeit vor 1945, mit Ausnahme der Gedächtniskirche, und die war auch hart umkämpft.

Dass diese Gegend, das Zentrum West-Berlins, trotzdem so heiter, entspannt und urban daherkommt, liegt sicher auch daran, dass der Wiederaufbau historische Straßenführungen und Blockränder respektiert hat. Gegenüber erhebt sich ein großer Riegel mit Wohnungen, daneben blitzen Tiergarten, Bikini-Haus und das „25 Hours“-Hotel hervor.

Baden in der City-West. Die Thermen-Baustelle von 1966.
Baden in der City-West. Die Thermen-Baustelle von 1966.

© Promo

Weiter westlich: die gefühlt seit 1980 eingerüstete Gedächtniskirche, fast mitleiderregend, weil sie aus dieser Perspektive von dem viel höheren „Upper West“-Turm zu einer Art Pförtnerhaus degradiert wird. Aber der Neuankömmling sieht mit seinen organischen Rundungen wirklich schick aus. Über allem bohrt sich der Mercedes-Stern in den, wenn man Glück hat, blauen Himmel. Prenzlauer Berg könnte nicht ferner sein. Die Großstadt liegt unter einem, man spürt ihren Puls, ist Teil von ihr und doch geschieden.

Es ist dieser Moment des Unerwarteten, der die Thermen am Europa-Center so einzigartig macht. Wer kommt schon auf die Idee, eine Badeanstalt auf dem Dach eines Parkhauses zu installieren? Wegen der Insellage und der mit ihr einhergehenden Enge ging in West-Berlin vieles, was andernorts nicht ging. Wie die Überbauung der Autobahn an der Schlangenbader Straße – oder eben diese Thermen. West-Berlin war mal richtig Avantgarde. Und einer, der kräftig mitmischte, war der 2003 mit 93 Jahren gestorbene Investor Karl Heinz Pepper. Er ließ von 1963 bis 1965 das Europa-Center anstelle des im Krieg zerstörten Romanischen Hauses errichten. Und weil das Einkaufszentrum ein Löschwasserreservoir brauchte, hatte er die Idee, nicht einfach nur ein Becken auf dem Dach anzulegen, sondern gleich ein ganzes Bad. Die Baugeschichte der Thermen ist also von Anfang an mit der des Europa-Centers verknüpft. Und beweist: Es gab mal eine Zeit, in der Brandschutz – in Berlin bekanntlich das Reizwort schlechthin – nicht nur verhindert, sondern kreative Lösungen hervorgebracht hat.

Ein ganz eigenes Milieu ist hier entstanden

Urbane Entspannung auf dem Europa-Center.
Urbane Entspannung auf dem Europa-Center.

© Thilo Rückeis

„Inzwischen haben die Thermen ihre Funktion als Löschwasserreservoire verloren“, erzählt Benjamin Jarick, „es gibt heute andere technische Möglichkeiten, Wasser nach oben zu pumpen“. Jarick ist, gemeinsam mit seiner Mutter, Geschäftsführer und quasi in den Thermen aufgewachsen: „Seit den 80er Jahren bade ich hier, genauso wie meine Tochter heute.“ Ein Familienbetrieb. Mit vielen Stammgästen, die hier ein ganz eigenes Milieu entstehen ließen.

Das spürt man besonders beim Aufguss. Sechs Trocken- und Dampfsaunen gibt es, zwei davon draußen auf der Dachterrasse, eine sogar im rustikalen Blockhüttenstil. Wollte man den Badebesuch mit einem Gottesdienst vergleichen, wäre der Aufguss die Predigt, der Mittelpunkt, das Hochamt. Aber es ist eine Predigt ohne Worte. Stumm schwitzt man im Kollektiv und wehe dem, der es wagt, einen Satz mit seinem Banknachbarn zu wechseln. Dem kann es passieren, dass er von einem bulligen reiferen Herrn mit einem „Schhhhhhhh!“ zurechtgewiesen wird – so schneidig, dass man danach glaubt, die Sauna mit einem Schmiss auf der Backe zu verlassen. Aufgüsse sind in Deutschland immer noch eine hochernste Angelegenheit. Man muss das mögen. Einfacher ist es, nicht zur vollen Stunde zu saunieren.

Thermen-Chef Benjamin Yarick badet hier schon seit Kindertagen.
Thermen-Chef Benjamin Yarick badet hier schon seit Kindertagen.

© Sabeth Stickforth Berlin

Und sich stattdessen an der Architektur zu erfreuen. Zum Beispiel an den runden Minikacheln, mit denen die steinernen Liegen verziert sind und die offenbar noch aus der Entstehungszeit stammen. Diese kultigen kleinen Knöpfe sind siebziger Jahre pur, sie machten einst auch den U-Bahnhof Adenauerplatz unverwechselbar, wo sie seit der Sanierung leider nur noch als langweiliges, aufgemaltes Zitat präsent sind. Auch im Restaurant der Thermen stößt man auf die stehengebliebene Zeit: ein herrlicher Stilmix aus antikisierenden Reliefs, zwei grünschimmernden Aquarien und brauner Polsterung. Die allerdings darf nur nutzen, wer einen Bademantel trägt oder zumindest ein T-Shirt. Ansonsten heißt es: ab ins recht trostlose Nebenzimmer. Ja, die Thermen am Europa-Center geben sich regelfreudig, auch wenn die Vorschriften nicht mehr ganz so üppig blühen wie noch vor einigen Jahren. Verschwunden ist leider das legendäre Sauna-Schild mit der Aufschrift: „Nicht reden! Stille! Silentium!“ Oder hat es das nie gegeben? Trügt die Erinnerung?

Jetzt im Juli bleibt es auch abends lange hell. Wer Zeuge sein möchte, wie die rote Sonne über West-Berlin versinkt, kann nach 19 Uhr kommen, dann wird’s billiger. In dem großen Apartmentriegel gegenüber gehen die Lampen an und tauchen Menschen und Möbel in sanftes, behagliches Licht. Sie offenbaren plötzlich, dass in vielen Wohnungen Kunst an den Wänden hängt. Ein kurzer Glücksmoment. Trotzdem wird es Zeit zu gehen, vorbei an Aphrodite und Hermes (oder ist es Herkules?). Es ist ein Abschied vom Himmel. Mit dem Aufzug geht die Fahrt hinunter. Hoffentlich führt sie nicht in den Hades.

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