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Nach dem Geschmack von Wilhelm II. Im Stil eines romanischen Palasts, also einer Kaiserpfalz, wurde das Landgericht am Tegeler Weg 1901 bis 1906 erbaut.

© Mike Wolff

Berliner Dächer (6): Raum für Notizen

Eine Ziegellandschaft krönt das Landgericht am Tegeler Weg. Was sich darunter verbirgt? Das Reich der Akten. Insgesamt 4600 laufende Meter werden hier verwaltet.

Er hatte sich alles genau ausgerechnet. Auf dem Weg zum Gerichtssaal, dort, wo der lange Flur abknickt, würde er den Vollzugsbeamten – seit den jüngsten Sparmaßnahmen im Justizressort werden Untersuchungshäftlinge nur noch von einem Aufpasser zum Verhandlungstermin begleitet – durch einen Fußhaken zu Fall bringen und dann losrennen. Zum Treppenhaus. Aber nicht die Stufen runter Richtung Ausgang, so wie es seine Verfolger vermuten würden, sondern aufwärts, immer höher Richtung Dach. Von außen hatte er gesehen, dass es dort nur wenige winzige Fenster gab. Zudem war das Gebäude ziemlich verwinkelt. Ein ideales Versteck also, um die Nacht abzuwarten und im Schutze der Dunkelheit zu flüchten.

Kein Wunder, dass dem Besucher hier sofort Krimi-Handlungen durch den Kopf schießen. Noch monumentaler, noch Ehrfurcht gebietender als das Landgericht am Tegeler Weg kann ein Ort der Rechtsprechung kaum sein. Von außen geriert sich das Gebäude wie ein Relikt aus dem Mittelalter: Steil und wehrhaft ragt das Mittelportal auf, hoch oben prangt der preußische Wahlspruch suum cuique, zu Deutsch „Jedem das Seine“ (die Nazis hatten damit auch das Tor des KZ Buchenwald beschriftet). Die mächtigen Natursteinwände sind durch drei Reihen Rundbogenfenster gegliedert – und darüber breitet sich eine schier endlose, dunkelrote Dachziegellandschaft aus.

Aura archaischer Gerichtsbarkeit

Hier an Räuber, Halunken und andere Spießgesellen zu denken, ist aber Quatsch. Im Landgericht Berlin werden nur Zivilfälle behandelt, genauer: Streitigkeiten, deren Wert höher liegt als 5000 Euro. Es kann sich um Prozesse zur Arzthaftung handeln, um Kapitalanlage-, Gewerbemiet- oder Pressesachen.

Dass der Bau die Aura archaischer Gerichtsbarkeit ausstrahlt, liegt an der neoromanischen Anmutung. Kaiser Wilhelm II. liebte das Bauprinzip des „Palas“, der Herrschersitze des 11. bis 13 Jahrhunderts. Die Kaiserpfalzen in Aachen und Goslar sind in diesem Stil erbaut, die restaurierte Wartburg präsentiert sich in derselben Optik. Auch in Posen, wo von 1905 bis 1913 das letzte Hohenzollern-Schloss entstand, wählte man diese mittelalterliche Formensprache.

Als der Geheime Baurat Rudolf Mönnich und der Wirkliche Geheime Oberbaurat Paul Thoemer nach der Neuordnung der Berliner Gerichtsbarkeit 1899 den Auftrag erhielten, auf einem von der Stadt Charlottenburg kostenlos zur Verfügung gestellten, 8000 Quadratmeter großen Grundstück vis à vis des Schlossparks einen Neubau zu errichten, entwarfen sie als devote Untertanen also einen neoromanischen Justizpalast.

Wobei die Herren Richter auf keinerlei modernen Komfort verzichten mussten. In den Büros wurden Warmwasserheizkörper eingebaut, die Temperatur in der enorm hohen Empfangshalle und den angrenzenden Fluren wurden mittels Niederdruckdampfheizung geregelt. Prachtvoll ist die Ausstattung der Räume. Jede der dunkelgrün gestrichenen Zimmertüren im Erdgeschoss ziert ein anderer handgeschmiedeter Beschlag, die Fenster sind bleiverglast, zwischen dem jugendstilhaften Rankenwerk an den Sandsteinwänden des Foyers sind juristische Schlüsselbegriffe wie Güte, Pflicht, Wahrheit, Milde oder Ehre zu lesen.

Weil sie durch hohe Fensterfronten zu den drei Innenhöfen großzügig mit Licht versorgt wird, wirkt die Eingangshalle gar nicht trutzig. Großzügige Freitreppen schwingen sich hinauf, die Arkaden der oberen Etagen werden von eleganten Gittern geziert. Und über allem wölbt sich – wie ein blassblauer, von stilisierten Sternen übersäter Himmel – die Kuppel.

Falsches Mittelalter nach außen, praktikable Moderne im Inneren, dieses Prinzip setzt sich auch unterm Dach fort. Sind die Wände auch massiv in Backstein gefügt, über der Kuppel sorgt dann doch ein Stahlgerüst für Stabilität. Und eine stilecht geschlossene Ziegelfront gibt es nur an der Straßenseite, während sich zu den Innenhöfen jede Menge „Schleppluken“ öffnen, also große Fenstergauben, die eine Nutzung der Räumlichkeiten möglich machen. Denn die preußische Bürokratie, die schon damals in aller Welt bewundert wurde, hat nicht nur ein Aktenordnungssystem hervorgebracht, das bis heute reibungslos funktioniert. Sondern eben auch kostenbewusst denkende Raumplaner. Einfach mal so hunderte Quadratmeter Raum ungenutzt zu lassen, das ging schon vor 100 Jahren gar nicht.

Dokumente werden bis zu 30 Jahre aufbewahrt

Auf jedem Stapel steht eine Zahlenkombination, die sich im Karteikartenkasten der Registratur wiederfindet.
Auf jedem Stapel steht eine Zahlenkombination, die sich im Karteikartenkasten der Registratur wiederfindet.

© Mike Wolff

Wer als Journalist einen Blick in die nicht öffentlich zugänglichen Bereiche des Landgerichts werfen will, wendet sich am besten an Richterin Rebekka Rosenfeldt, die im Management des Hauses für Besucher zuständig ist. Für unseren Rundgang hat sie Sven Müller mitgebracht, den Leiter der Bodenregistratur. Also den Mann, der für die eingelagerten Akten zuständig ist. Denn der Dachstuhl ist vor allem eines: ein Raum für Notizen.

Es gibt hier zwar auch einige Richter-Zimmer sowie die Büros von Sven Müller und seinen Kollegen, doch der Großteil der Fläche wird von Regalen eingenommen. Maßanfertigungen übrigens, die in Berliner Justizvollzugsanstalten hergestellt werden. Stabil sollen die Regale sein, deshalb wird Metall verwendet. 4600 laufende Meter werden hier oben verwaltet, noch ganz und gar analog, mit handgeschriebenen Zetteln, die unter jeden Stapel geschoben werden und auf denen eine Zahlenkombination steht, die sich im Karteikartenkasten der Registratur wiederfindet.

Fünf Jahre lang werden alle Dokumente aufbewahrt, wenn rechtlich nötig, auch 30 Jahre. Und für ganz wichtige Fälle kann das Prädikat „zeitgeschichtlich wertvoll“ beantragt werden. Dann wandern sie ins Landesarchiv. Zum Beispiel könnte der „Fear“-Prozess eines Tages dort landen, bei dem das Gericht 2015 zwischen Persönlichkeitsrechten und der Freiheit der Kunst abzuwägen hatte. Die AfD-Politikerin Beatrix von Storch wollte der Berliner Schaubühne verbieten lassen, ein Foto von ihr in einer Inszenierung von Falk Richters „Fear“ zu zeigen. Hitzig war es im Saal zugegangen, am Ende siegten die Theaterleute. Auch der ewige Zwist zwischen Rolf Hochhuth und Claus Peymann kam vors Landgericht. Im August 2009 wollte Hochhuth per einstweiliger Verfügung eine Aufführung seines Stücks „Sommer 14“ im Berliner Ensemble durchsetzen. Womit der Dramatiker tragisch scheiterte.

Viel Kulturprominenz hat sich am Tegeler Weg eingefunden

Viel Kulturprominenz von Ilja Richter bis Winfried Glatzeder hatte sich zudem im vergangenen Jahr am Tegeler Weg eingefunden, als Martin Woelffer erfolglos gegen die Räumung des Theaters wie der Komödie am Kurfürstendamm aufbegehrte. 1998 vertrat der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele hier anwaltlich einen Spielsüchtigen, der vom Casino am Alex 16 000 Mark zurückhaben wollte, die er dort verzockt hatte, obwohl er nach einer „Selbstsperrung“ gar nicht hätte Einlass finden dürfen. Im selben Jahr wurde auch der Fall eines selbst ernannten Denkmalschützers verhandelt, der sich weigerte, die allerletzten Mauerreste sowie ein Pissoir aus dem Jahr 1904 auf dem Potsdamer Platz abzuräumen.

„Zeitgeschichtlich wertvoll“ war zweifellos der Kampf, den die Architektin des Steglitzer Kreisels, Sigrid Kressmann- Zschach, 1978 gegen den Senat ausgefochten hat: Nach einer staatsanwaltschaftlichen Durchsuchung ihrer Räumlichkeiten wegen eines Betrugsverdachts forderte sie 1,5 Millionen Mark als Entschädigung – für „entgangene Gewinne“.

Tausende und abertausende Fälle des Landgerichts sind hingegen längst vergessen, zu Recht. Und wenn Sven Müller das Licht in seinem Speicher-Reich ausschaltet, sinken auch die Prozessdokumentationen aus jüngster Zeit ins Dunkel zurück. Der Besucher aber möchte das Gebäude nicht verlassen, ohne aus der Höhe wenigstens einen Blick auf die Umgebung zu werfen. In einem modernen Anbau an den neoromanischen Palas hat der Architekt Gerd Rümmler 1987 die Kantine freundlicherweise im obersten Stockwerk platziert und mit einem Balkon ausgestattet.

Übers satte Grün des Charlottenburger Schlossparks schweift das Auge von dort, hinter den Wipfeln tanzt die goldene Fortuna auf ihrer 50 Meter hohen Turmspitze. Direkt gegenüber schimmert das elegante Belvedere durchs Blattwerk, ein Ausflugsdampfer dümpelt auf der spiegelglatten Spree vor sich hin. Rechterhand begrenzt die Autobahnbrücke den Blick, linkerhand erstrecken sich die Dachziegel des Altbaus. Mit Tonnen von geduldigem Papier darunter.

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