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Frei flottierende Klangträger. Das Sheridan Ensemble tritt am heutigen Samstag um 17 Uhr im Radialsystem auf. Foto: rbb/Horbik

© rbb/Jozef Horbik

Berliner Festival für Neue Musik: Das Parfum der Vergangenheit

Zauber der Orte: Ultraschall, das Berliner Festival für Neue Musik, erkundet die Grenzen des Musiktheaters.

Schritte im Laub, eine mechanische Schreibmaschine, klirrende Tassen, ein zu Boden fallender Schlüsselbund – mit vertrauten Geräuschen operiert die Berliner Komponistin Sarah Nemtsov in ihrem inszenierten Zyklus „A Long Way Away“, eine Uraufführung des Berliner Festivals für neue Musik Ultraschall 2012. Wie Signale rufen sie eigene Erinnerungen wach, seien sie auch noch so alltäglich. Erinnerung ist Nemtsovs Thema – der Prozess, der die Zeit bewegt, sie zerlegt und letztlich die subjektive Gegenwart bestimmt. Das antiquierte Mobiliar auf der Bühne der Sophiensäle, auf der sich die Musiker des Ensemble Adapter ohne den Anflug eines Rollenspiels bewegen, erinnert an das großelterliche Wohnzimmer, das Parfum der Vergangenheit noch in der Luft.

„Grenzen des Musiktheaters“ ist dieses Jahr einer der Schwerpunkte des von Deutschlandradio Kultur und dem Kulturradio vom RBB veranstalteten Festivals. Viel wird heute experimentiert in diesem Grenzbereich, selten ist das Ergebnis überzeugend. Meist scheitert es am Irrglauben, der Musiker könne auch Schauspieler sein. Und darin liegt womöglich auch das Gelingen von „A Long Way Away“: die Musiker stellen nichts dar, sondern führen nur Handlungen als Funktion der Musik aus.

Nemtsovs neuem Werk liegen Texte des Erinnerns von Proust, W. G. Sebald und Mirko Bonnés zugrunde. Aber: Kein Wort wird gesungen, kaum eins gesprochen, und doch vermitteln sich Atmosphäre und Grundgefühl der Texte durch ihre assoziative Musik- und Klangsprache direkter und vollkommener als jedes Wort es könnte. Man vergisst geradezu, dass es Musik ist.

In Oscar Bianchis uraufgeführter Kantate „Matra“ erwies sich genau das Fehlen der Bezugstexte in der Musik als Problem, zumal philosophisch-mystische Texte weniger sinnliche Transportebenen bieten. So fühlte man sich ohne Text um Inhalt und wohl vorhandene Aussage der groß angelegten Kantate ein wenig betrogen, doch ergänzte sie sich gemäß des spirituellen Schwerpunkts der ersten Festivaltage mit den Werken Claude Viviers, jenes kanadischen Komponisten, der nach schwerer Jugend mit nur 34 Jahren mysteriös ermordet wurde. Bei allem Hang zur Ergründung von Leben und Tod, scheint Vivier gerade bei „Love Songs“ zu Scherzen aufgelegt, doch das täuscht: Die Liebe der Lächerlichkeit preisgebend verleiht er wieder nur seiner Verzweiflung daran Ausdruck.

Was tut man, wenn man einen Koffer voll Frühwerke eines verstorbenen Komponisten findet, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind? Der römische Dichter Vergil soll angeordnet haben, sein Monumentalepos, die „Aeneis“, nach seinem Tod zu verbrennen. Man hat es nicht getan – und so gilt Vergil bis heute als der „Vater des Abendlands“. Zum posthumen Glück wurde nun auch der französische Komponist Jean Barraqué (1928– 1974) gezwungen, der sich im Paris der Nachkriegsjahre so vollkommen mit der Idee des Serialismus identifizierte, dass er sich von seinen prä-seriellen Kompositionen distanzierte und es vorzog, ein winziges Oeuvre von approbierten Werken zu hinterlassen. Seinen Weg zum Serialismus nun musikalisch nachzuvollziehen, ist ein lohnendes Erlebnis. Es bedingt allerdings, dass man das Frühwerk im Kontext des „Blütewerks“ versteht, was Ultraschall, je nach Programmkonstellation, ermöglichte oder gerade verunmöglichte. So konnte sich das Ohr beim Konzert des Pianisten Nicolas Hodges und der Sopranistin Anja Petersen von den teilweise spätromantisch klingenden ur- und erstaufgeführten Klavierwerken und Liedern zur Klaviersonate (1950–52), seinem seriellen Bekenntnisstück, vorarbeiten, Prozesse und Umbrüche begreifen und die Handschrift in die Abstraktion hinein verfolgen.

Ein anderes Barraqué-Bild vermittelte dagegen das Eröffnungskonzert in der Parochialkirche, wo Barraqués frühes, vom Einfluss seines Lehrers Messiaen geprägtes Vokalwerk „Ecce videmus eum“ zwischen Viviers „O! Kosmos“ und „Musik für das Ende“ erstmals erklang – jenes wiederum Werke von penetranter Selbstbezogenheit. Die verzweifelte Sinnsuche dieser tragischen Komponistengestalt mag zwar ans Herz gehen, doch wenn die frömmelnden Klänge, die im Raum einherschreitende Sänger des RIAS Kammerchors erzeugen, im erschütternd banalen Ausbruch kulminieren: „Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich?“, möchte man bloß ein leises „Was mache ich hier?“ hinzufügen.

Zumindest bot die Parochialkirche das ideale Setting für diesen metaphysischen Reigen. Überhaupt harmonierten Programm und Spielort bei der diesjährigen Ultraschall-Ausgabe äußerst gut, ein Faktor von stets wachsendem Stellenwert in der neuen Musik. So wirkte der heruntergekommene Charme der Sophiensäle wie ein integraler Teil von Sarah Nemtsovs Erinnerungs-Zyklus und auch das reine Blockflötenprogramm des Quartet New Generation im Musikinstrumentemuseum konnte besser nicht untergebracht sein. Tatsächlich freut man sich an den kuriosen Alt- und Neukreationen des hässlichen Entleins unter den Instrumenten – allerdings nur so lange bis überblasene Töne von Sofia Gubaidulina die eingefleischte Blockflötenaversion zu neuem Leben erwecken.

Abgesehen von vereinzelten Uraufführungen schien Ultraschall 2012 zu einem Festival für reanimierte Musik zu tendieren. Dagegen spricht an sich nicht viel, denn auch Werke der klassischen Avantgarde sind viel zu selten zu hören und auch da ist das Feld für Entdeckungen ein weites, wie der Fall Barraqués belegt. Cage, Feldman und auch zeitgenössische Meister wie Wolfgang Rihm und Peter Eötvös, die schon längst das Prädikat der „Salonfähigkeit“ erlangt haben und in den Programmen des klassischen Konzertbetriebs auftauchen, füllen ganze Ultraschall-Abende. Ultra-divers, das alles. Oder ein Spiegel des unumgänglichen Pluralismus.

Noch zwei Tage Ultraschall: Samstag, „Tag der Neuen Musik“, Sonntag, DSO. Infos: www.dradio.de/ultraschall

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