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Zauberhaus

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Berliner Festspiele: Die magischen Vier

„I went to the house ...“: Heiner Goebbels und das Hilliard Ensemble sind zu Gast bei den Berliner Festspielen.

Unfreiwillige Keuschheit quälte den Dichter, bis er mit 26 Jahren endlich heiratete. Er war ein langsamer Arbeiter, sein Oeuvre mit dem Jahrhundertpoem „The Waste Land“ wirkt schmal, aber gewaltig. 1948 – auch das brauchte seine Zeit – wurde T. S. Eliot, der Amerikaner in England, mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

Splendide Einsamkeit, die Abwesenheit von Frauen und die Magie der verfließenden Zeit: Mit den vier Gentlemen vom Hilliard Ensemble hat der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels einen wundersamen, wunderreichen Abend geschaffen – „I went to the house but did not enter“. Man wird sich schwer tun, dieser musikalisch-literarischen Kostbarkeit einen Genrenamen zu verpassen. Inszeniertes Konzert? Existenzialistische Séance? Magisches Theater? All dies passt (und auch wieder nicht) zu dem neuen Stück von Heiner Goebbels, das im August beim Edinburgh Festival uraufgeführt wurde und nun bei der Spielzeit Europa in Berlin zu erleben ist – mit T. S. Eliots Frühwerk „The Love Song of J. Alfred Prufrock“ als Kopfsatz.

T. S. Eliot gilt als nahezu unübersetzbar. Und hier versteht man: Seine Verse wollen vorgetragen, gesungen sein. Aber zunächst herrscht tiefstes Schweigen auf der Bühne. Die vier Vokalartisten decken eine Tafel ab, ihre stummen Bewegungen sind von zauberischer Genauigkeit, der Salon mit den Bullterrierportraits glüht geradezu vor Geheimnis. Ein Hausstand wird abgebaut und eingepackt, und dann scheint die an Robert Wilson erinnernde, höchst akkurate und absurde Aktion rückwärts zu laufen. Und plötzlich setzt der Gesang ein, wie mit Engelszungen. Eliots „Love Song“ kündet von vergeblichen Anläufen ins Glück, in den Dunstkreis von Frauen. Doch verteilt sich das schicksalhafte Versagen tröstlich auf vier Herren, die ganze Menschheit ...

Man sieht sie sogleich wieder hinter Fensterscheiben, in einem Vorstadthaus (Bühnenbild: Klaus Grünberg). Sie gehen seltsamen Verrichtungen nach, diese Beobachter, Alltagserforscher, Zeittotschläger. Ihr Anker in diesem Meer von Ungewissheit und Todesangst ist jetzt Maurice Blanchots „The Madness of the Day“. Ein Mensch allein, das hat immer auch etwas zwanghaft Komisches, und die Hilliards sind Meister des Schwebezustands. Eine kurze Reflexion Franz Kafkas („Der Ausflug ins Gebirge“) gibt Anlass zu einem geradezu fröhlichen Intermezzo. „Die Hälse werden im Gebirge frei! Es ist ein Wunder, dass wir nicht singen.“ Und wie sie doch singen, beschwingt rezitieren – hinein schließlich in ein Hotelzimmer mit Fernsehen, Minibar und Urlaubsdias und einem späten Lamento von Samuel Beckett, „Worstward Ho“.

Frage keiner, was das Hilliard-Männerquartett da treibt. Die Sache zieht sich atmosphärisch zu, von Eliot zu Becketts letzten Dingen („A story? No. No stories. Never again“). Die Geschichten sind also alle lange schon erzählt, hier klingt die Stille nach, die Erinnerung. Der Gesang mutet atonal an, strahlt aber gefährliche, unerklärliche Harmonie ab. Eliot, Blanchot, Kafka, Beckett. Man könnte denken, dass hier literarische Schwergewichte szenisch-musikalisch gewogen werden. Aber Heiner Goebbels und das Hilliard Ensemble leisten sich keine Interpretation. Sie finden einen beinah kindlichen Genuss am Abheben, Gleiten, Sich- fallen-Lassen. Natürlich geschieht das – und das wäre der einzige Einwand – in jeder Sekunde äußert planvoll und diszipliniert. Als wäre die Welt dieser Texte ein Gefängnis und unentrinnbar.

Eliots quälend elegantes Vor-und-Zurück, dieses ewige, erotisch aufgeladene Retardieren gibt den Grundton. „I went to the house but did not enter“: Nein, man muss hingehen, ins Berliner Festspielhaus, und eintreten bei Heiner Goebbels und dem Hilliard Ensemble. Unbedingt!

Spielzeit Europa, 13. bis 16. November.

Rüdiger Schaper

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