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Kultur: Berliner Festspiele: Manege frei

Am Schluss vergewaltigt Woyzeck Marie und bricht ihr das Genick. In diesem Moment stürzt er ab, der Drahtseilakt jenes "Arbeiterzirkus".

Am Schluss vergewaltigt Woyzeck Marie und bricht ihr das Genick. In diesem Moment stürzt er ab, der Drahtseilakt jenes "Arbeiterzirkus". Bis dahin ist er furios. Bei den Berliner Festwochen macht Regisseur Arpád Schilling aus Büchners "Woyzeck" den zeitlosen Albtraum aller Kleinen und Geknechteten. Schilling verflicht dazu Passagen des fragmentarischen Werkes mit anderen Texten - die freilich kaum ins Gewicht fallen. Und dies nicht, weil das Kretakör Theater auf Ungarisch mit Übertiteln spielt, sondern weil das Spiel der Schauspieler an Grenzen geht: an die Grenzen des körperlich und seelisch Erträglichen.

Ein riesiger Stahlkäfig drückt in den Sophiensälen die Zuschauer an die Wand, die Schauspieler klettern an den Gitterwänden hoch wie Insekten, wälzen sich wie Affen auf dem Sandboden. Am Anfang sind Woyzeck und Marie nackt wie Primaten, baden in trauter Zweisamkeit einen klumpigen Stein in einer Badewanne. Doch sobald Woyzeck Hose und Hemd aus dem Sand wühlt und sich die Gesellschaft auf den Leib zieht, beginnt seine Demontage. Durch den Hauptmann, der ihn wie einen Leibeigenen behandelt, den Tambourmajor, der mit Marie schläft, den Doktor, der ihn für medizinische Experimente missbraucht.

Am Ende ist Woyzeck kein Mensch mehr, sondern nur mehr ein nasser Sack Sand, mit Klötzen an den Füßen und einem bis zur Unkenntlichkeit verschnürten Gesicht. Dabei agieren die Schaupieler mit bedingungsloser Radikalität. Als sich einer von ihnen mit Benzin übergießt und ein Streichholz in der Hand hält, stockt einem der Atem - wie im Zirkus. Solche Schock-Effekte gibt es viele, doch noch eindringlicher sind die kleineren Gesten. So kann sich der Hauptmann nicht bewegen, und Woyzeck wäscht ihn, was fatal an eine Leichenwaschung erinnert, ja er füttert ihn sogar. Unerträglich ätzend ist es, wenn der derart abhängige Krüppel mit Woyzeck spricht wie mit einem Tier.

Die Spannung ist groß, wie Schilling am Ende den einzigen praktischen Gewaltakt in Büchners Stück umsetzen würde. Man hofft auf einen Kontrapunkt - vergebens. Stattdessen: Vergewaltigung, Genickbruch, Mord. Als könnte ausgerechnet Marie etwas dafür, wie Menschen hier mit Menschen umgehen - und für das ganze Unglück.

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