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Berliner Festspiele: Note macht erfinderisch

Extrem laut und unglaublich nah: Charles Dutoit und das Philadelphia Orchestra spielten das Eröffnungskonzert des "Musikfest Berlin" und bringen damit ein Stück amerikanische Orchesterkultur in die Stadt.

Elefanten, fand Johannes Brahms, gehören definitiv zu den gefährlichen Tieren: Denn aus ihren Stoßzähnen werden Klaviertasten gemacht. Mit so einem Pianoforte, das hatte der Komponist selber bewiesen, lassen sich wildeste Dinge anstellen. Noch unbändiger traktierte nur Franz Liszt das Elfenbein. Am Beginn von dessen Zweitem Klavierkonzert aber gibt sich der Solist handzahm, schlängelt sich, raubtierhaft raffinert, mit Läufen und gebrochenen Akkorden zwischen den Melodien der Holzbläser und Streicher hindurch. Dann aber wühlt er sich plötzlich ins tiefe Register der Klaviatur, lässt die Stahlsaiten erzittern, zieht das Tempo an.

In diesem Moment müsste Jean-Yves Thibaudet beim Eröffnungskonzert des „Musikfest Berlin 2011“ am Samstag die Führung an sich reißen. Doch Charles Dutoit am Pult des Philadelphia Orchestra denkt nicht daran, in die Rolle des Begleiters zurückzutreten, hält die Lautstärke konstant, ja treibt den Pianisten geradezu vor sich her. Wenn es in der Partitur chopinesk wird, wenn Kantilenen statt Knalleffekte im Vordergrund stehen, vermag Thibaudet wunderbar seine sensiblen Linien zu ziselieren. Dann aber rollt das Orchester wieder über ihn hinweg.

Weil ihm alles Dämonisch-Auratische, alle raumgreifende Tastentigerattitüde abgeht, ist der Franzose als Liszt-Interpret eine glatte Fehlbesetzung – oder, freundlicher formuliert, die dialektisch perfekt gesetzte Antithese im gedanklichen Gitternetz, das Winrich Hopp, der künstlerische Leiter des Musikfests, über sein diesjähriges Programm gelegt hat. Bei dem Orchesterfestival zum Saisonstart ist das Klavier der heimliche Hauptdarsteller. Nicht nur wegen des 200. Liszt-Geburtstags. Um das Klavier kam im 19. Jahrhundert kein Komponist herum. Technische Neuerungen und Massenproduktion führten dazu, dass in jedem bürgerlichen Wohnzimmer ein Piano stand, mit dem man sich – dank sogenannter Klavierauszüge – Oper und Sinfonik ins Heim holen konnte. „Zehn Finger eines Menschen genügen, um die Harmonien wiederzugeben, welche durch den Verein von hunderten von Musizierenden hervorgebracht werden“, schwärmte Liszt. Sein Schwiegersohn Richard Wagner dagegen sah die Idee der Live-Aufführung von Musikdramen bedroht: „Hämmer, aber keine Menschen!“ lautet sein Verdikt gegen die Klaviermechanik, die es niemals mit der Schönheit des Gesangs aufnehmen könne.

Von der Stimme her denkt mittlerweile auch Wolfgang Rihm, neben Liszt der zweite Star dieses Musikfests. Sieben Mal werden seine Werke erklingen. Die Gäste aus Philadelphia haben „Verwandlung3“ von 2008 ausgewählt, ein ebenso opulentes wie virtuoses Klanggemälde von Strauss’scher Machart, mit dem sich die brillante Seite amerikanischer Orchesterkultur mustergültig vorführen lässt.

Auch bei der „sinfonie fantastique“ von Hector Berlioz interessiert sich Dutoit vor allem für das Filmmusikartige der Schlusssätze, für den „Gang zum Richtplatz“ und den „Hexensabbath“, die mit greller Effekthascherei und schneidenden Blechbläsern ihre Wirkung in der Philharmonie dann auch nicht verfehlen.

Berlioz ist Hopps Kronzeuge beim Kampf Solist gegen Kollektiv, Atem gegen Perkussion, Innigkeit gegen Perfektion. Er verbindet die Gegensätze, wenn er das Orchester als gigantischen Konzertflügel definiert, auf dem die verschiedenen Klangfarben der Instrumente vom Dirigenten so angeschlagen werden können wie Tasten einer Klaviatur. Das gefällt autokratischen Maestri wie Dutoit. Er ist der Chefingenieur, der die „mit Verstand begabten Maschinen“ an ihren Pulten bewegt. Dieser Ansatz birgt ein Problem: Wenn sich der Dirigent nur für die perfekte technische Ausführung interessiert, wirkt das Ergebnis automatenhaft. In der Philharmonie ist ein extrem arbeitsteiliger Prozess zu erleben, Einzelleistungen auf höchstem Niveau – von dem Lieben, Hoffen und Hadern des feinnervigen Kreativen, das Berlioz mit seinen „Szenen aus dem Lebens eines Künstlers“ einfangen wollte, ist nichts zu erleben. Weil der Musik innere Spannung und Seele fehlen.

Trotz dieser Unzulänglichkeiten aber wirkt der Eröffnungsabend erhellend. Er zeigt, was in den 21Musikfest-Konzerten alles passieren kann. Hopp möchte aus der üblichen Biotop-Struktur des Klassikbetriebs ausbrechen. In vielen Festivals wird die Alte Musik wie die Moderne so platziert, dass sich das Publikum jeweils austauscht. Das will Winrich Hopp nicht. Hartnäckig verhandelt er mit den Orchestern, bis sich Programme ergeben, die über Gattungs- und Zeitgrenzen hinweg inhaltliche Linien aufzeigen.

Gerade die Pflege des jüngeren Repertoires liegt ihm am Herzen. Nur wenn die großen Orchester regelmäßig die Meisterwerke der Moderne spielen, entwickelt sich eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Notentext, die Detailarbeit erst möglich macht. Darum gibt es als wahrhaft festivalwürdige Tat in 14 Tagen zwei personell aufwendige Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts parallel in Philharmonie und Kammermusiksaal: Luigi Nonos „Prometeo“ und Gustav Mahlers „Sinfonie der Tausend“.

Das Musikfest läuft bis zum 20. September. Infos: www.berlinerfestspiele.de

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