zum Hauptinhalt

Kultur: Berliner Festwochen: Tagebuch: Philharmonie und St. Matthäus-Kirche

Die Menschenschlange vor den beiden Kartenschaltern windet sich durch die ganze Philharmonie-Vorhalle. Als hätten die aberhundert Kurzentschlossenen geahnt, dass der Schostakowitsch-Abend der Petersburger Philharmoniker zu einem der raren Festwochen-Höhepunkte werden würde.

Die Menschenschlange vor den beiden Kartenschaltern windet sich durch die ganze Philharmonie-Vorhalle. Als hätten die aberhundert Kurzentschlossenen geahnt, dass der Schostakowitsch-Abend der Petersburger Philharmoniker zu einem der raren Festwochen-Höhepunkte werden würde. Ein Weltspitzenorchester, immer noch und allen kulturpolitischen Rangeleien im postkommunistischen Russland zum Trotz. Wie lange mag es her sein, dass in der Philharmonie ein so perfekter und tonschöner Streicherklang zu hören war? Das eigentliche Wunder des Abends ist jedoch, dass diese Perfektion vollkommen im Dienst des musikalischen Ausdrucks steht. Die Petersburger gelten seit der Halbjahrhundert-Ära Ewgenji Mravinskys als das erwählte Orchester für die Sinfonien Dimitri Schostakowitschs. Auch unter Mravinsky-Nachfolger Yuri Temirkanov ist diese Kompetenz geblieben: Mit oft erstaunlich sparsamen Bewegungen modelliert Temirkanov die Spannungsbögen der siebten Sinfonie heraus, zieht von den ersten idyll-malenden Takten an in das spezifische Schostakowitsch-Universum. Die existenzielle Bedrohung durch den unerbittlich heranrückenden Marsch im Kopfsatz, der so behutsam tastende Abstieg in die Seelentiefen des langsamen Satzes - all das teilt sich in einer Intensität mit, die einem bei jeder Generalpause den Atem stocken lässt. Zuvor spielt David Geringas das erste Cello-Konzert, auch bei ihm die gleiche Mischung aus spieltechnischer Perfektion und Kraft des Gefühls. Mit einem elektrisierenden Schostakowitsch-Ton von abgemessener Expressivität, ohne Aalen im Luxuston macht der ehemalige Solocellist der Berliner Philharmoniker noch die irrwitzigen Griffwechsel in der Schlussschraube der Solokadenz als verzweifelte Gegenwehr gegen die verordnete Zackigkeit des Schlusssatzes hörbar. Nach drei Festwochen endlich: Jahrhundertklang. jök

Die Form eines aus Miniaturen zusammengefügten Liederzyklus hatte György Kurtág bereits mehrfach erprobt, als er sich 1985 an Kafka wagte. 39 Bruckstücke aus Tagebüchern und Briefen, vom Umfang eines einzelnen Wortes "ruhelos", bis hin zur kleinen Szene reihen sich in vier Teilen aneinander. Sopranstimme und Violine, mehr braucht Kurtág nicht, um in seinen KafkaFragmenten mehr als eine Stunde hindurch musikalische wie intellektuelle Hochspannung zu erzeugen. Bei den Festwochen wurde der bedeutende Zyklus schon öfter aufgeführt, und es zeigt sich, dass Berlin wirklich ein begeisterungsfähiges Kurtág-Publikum hat, die St. Matthäus-Kirche ist jedenfalls überraschend gut besucht.

Schon mit der seltsamen Besetzung, zumal bei diesem Umfang, bewegt sich Kurtág auf demselben Drahtseil, wie der kurz vor dem Absturz schreibende Kafka. Seine Musik, und wirklich nur seine, hat dieselbe Reinheit und dasselbe unendlich schwere Gewicht der einfachen und doch hochabstrakten Gesten wie Kafka.Sie treibt das Lachen hinter den Verzweiflungssätzen hervor. Allerdings nicht unbedingt auf jene pfiffig burschikose Art, mit der der Violinist Christoph Poppen im ersten Teil mit grimmiger Mimik jeden dissonanten oder kratzigen Akkord kommentierte und so muntere Lacher aus dem Publikum hervorkitzelte.

Aber auch diese etwas überzogenen Momente funktionierten doch als Teil eines außerordentlich dichten Interpretationskonzeptes, in dem sich Poppens glasklares Violinspiel und der schlackenlose, berückend intonationssichere Sopran von Juliane Banse traumwandlerisch sicher umeinander bewegten, sich den Ton abnahmen, die Bälle zuspielten, einander kommentierten. Auch verglichen mit den großen Kurtág-Abenden vergangener Festwochen gehörte dieser zu den besten.

Wil

Zur Startseite