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Zwischen-Raum. Im Erdgeschoss des 1905 gebauten Backsteinhauses residiert die Alt-Berliner Kneipe "Zum Umsteiger".

© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Häuser (16): Oase für Pufferküsser

Rund um die Kneipe „Zum Umsteiger“ in der Yorckstraße tost der Verkehr. Hier kann man in Ruhe den Anschluss verpassen.

Über die Jahre stellt sich Bewunderung ein, ganz ohne dieses merkwürdige Haus je betreten zu haben. Es ist eine Bewunderung, wie man sie Leuchtturmwärtern entgegenbringt, Menschen, die den arktischen Winter in einem Container verbringen oder wissenschaftlichen Instrumentenablesern auf einer alpinen Wetterstation. Kurz: den Vorposten der Zivilisation in menschenfeindlichem Gelände.

In keine Häuserzeile gefügt, umtost vom Verkehr wie von arktischen Stürmen liegt am Fuße des Aufgangs zur S2 in der Yorckstraße ein gegiebelter Backsteinbau – einsam. Wo die Autos beschleunigen, um unter den alten Brücken hindurch von Schöneberg nach Kreuzberg zu rutschen, wo das Geheul der Stadt in Böen brandet, die Stadt versiegelt liegt unter Beton, rumpelt unterirdisch die U-Bahn, Fahrräder rasieren vorbei. Geschwindigkeit schafft Leere. Die Fußgänger rennen um Anschluss.

Da klappt einem eine beschriftete Kreidetafel in den Weg: Wat weg muss: Erbsensuppe. Currywurst frisch aus der Pfanne.

Die Unwirtlichkeit der Stadt hat ihren Wirt gefunden.

Man kann nichtsahnend die gläserne Kneipentür zum „Umsteiger“ mit dem Originalglas von 1905 aufstoßen, und, als falle man durch eine Luke in eine kuriose Welt, können dahinter zum Beispiel 18 Lokführer aus Hamburg beisammen sitzen. Oder, erzählt Hans-Werner Sens, an anderen Tagen, treffen sich regelmäßig ehemalige Mitarbeiter der Reichsbahn, von denen einer noch eine Dampflok fuhr. Und, so überbietet seine Frau Martina vom Tresen her: Fünfmal im Jahr kommen Straßenbahnfahrer aus Stockholm. Die reisten allerdings nicht mit der S-Bahn, sondern per Flugzeug an.

„Zum Umsteiger“, dieses unmögliche Haus, ist auch in Sachen Dekoration eine Welt der Eisenbahner, der Lokomotivführer und der „Pufferküsser“, der Alt-Berliner Kneipenfans und der Raucher – Rauch ist ja ein altes Konservierungsmittel. Die Lichtenrader sagen, dies sei die erste Kneipe von Lichtenrade, denn mit der S2 Richtung Süden, da fahre man ja ins Nichts. Es ist die Welt des Hans-Werner Sens aus Schöneberg und seiner Frau. Die Kneipe ist winzig, die Doppeldeckerbusse füllen im Vorbeifahren das Fenster komplett aus. „Es gibt einen Keller,“ sagt Sens stolz, und das ist natürlich ein Wunder, wenn man weiß, dass direkt darunter die U-Bahn fährt.

Hans-Werner Sens, in Schöneberg aufgewachsen, in Bremen und Bayern gewesen, hatte jahrelang eine Allianz-Versicherungsvertretung. 2004 sprang ihn plötzlich die Ödnis an. Er hatte mit einem Mal keine Lust mehr auf seine Versicherungsagentur. Er hatte Lust, etwas 100-Jähriges zu besitzen, aber „anstatt Johannes Heesters zu adoptieren“ kaufte er den „Umsteiger“. Der alte Wirt war vorher bei ihm versichert gewesen. Und er kannte die Kneipe aus alten Tagen, als er seine halbe Jugend lang von „Leydicke“ in der Mansteinstraße kommend an der „Meisengeige“ vorbei zum „Café Europa“ lief und zum „Café Kaputt“. Er konnte auf dieser Achse der Unterhaltung Freitagabend losgehen und Samstagmorgen kurz vor dem Südstern im „Leierkasten“ ankommen.

Als Sens im Jahr 2004 mit seiner Frau den alten Teppich herausriss, die Flaschentrinker verbannte und auf West-Berliner Art im KaDeWe meterlangen grünkarierten Stoff kaufte, den er zu Gardinen und Tischdecken nähen ließ, schuf er damit aus einer spontanen Laune heraus den „Deliriumstraum eines Highlanders“, einen Ort, an dem man in den kommenden Jahren auf gepflegte Art den Anschluss verpassen konnte. „Ich hatte ja keine Ahnung, wie Gastronomie funktioniert“, sagt er. Und: „Ich wollte auf jeden Fall Tischdecken.“ Tresen kannte er bis dahin nur von vorne. Er würde einen Glücksfall brauchen.

2005 brannte es im S-Bahnhof Anhalter Bahnhof. Die Haltestelle war monatelang gesperrt. Von nun an würden die Leute an der Yorckstraße umsteigen, immer die paar hundert Meter von der S1 zur S2/S25 und zurück. Laufkundschaft ist gar kein Ausdruck. Und dass sie dann bei ihm vorbeikamen, das war sein Glück – und bestimmt, würden einige neue Stammgäste heute sagen, auch das ihre.

Sens holt eine Planrolle, eine Kopie von der Architektenzeichnung des Hauses von 1905, Grundrisse, Querschnitt und Ansicht. Das Haus war schon als „Restauration“ geplant. Unten der Gastraum, die Wendeltreppe führte in die ehemalige Küche im ersten Stock. Nach dem Zweiten Weltkrieg lief hier „Schulzes Bahnhofswirtschaft“, dann wechselten die Besitzer häufig, bis 1970 war es ein Restaurant, dann haben sie unten auch eine Damentoilette eingebaut.

Nun im Besitz eines Herrn aus dem Hessischen, hat das Haus auf dem ehemaligen Eisenbahngelände seine Kneipe nur noch im Erdgeschoss. Sie ist so winzig, dass sie die Tür abschließen, wenn 25 Leute drin sind. Es gab nur drei Zechpreller in acht Jahren.

Und oben?

Zwei Zimmer. Vermietet. Und nochmal zwei darüber.

Und, wie geht es den Bewohnern?

Lärmschutzfenster, sagt Sens. Ansonsten zufrieden. Die Dame unterm Dach hat ihre Gläser in den Schränken auf Tücher gestellt, damit sie nicht so klirren, wenn die Busse vorbeidonnern.

Aber es gibt ja noch diese unerwartete Rückseite, sagt Sens. Und dann führt er die überdachte Treppe neben dem Haus den Berg hinauf. Das Gelände steigt steil an und weitet sich dann zu einem grünen Idyll. Ein niedriges Gartengebäude aus Backstein mit Fensterläden und doppelten Holzfenstern in sorglosen Farben steht rechts. Hortensien und Rosen zeigen regelmäßige Pflege. Kein anderes Haus in Sicht, nur Bäume und eine selbst gebastelte Hollywoodschaukel. Ab und zu setzt Sens ein paar Fische aus im Teich, ab und an schnappt sich ein Fischreiher darin sein Mittagsmenü. Nur die Hühner, die haben sie abgeschafft, nachdem sie immer auf die S-Bahn-Gleise liefen und die Lokführer sich beschwerten.

Gegenüber haben sie die Tankstelle abgerissen, das Gelände sieht seit Wochen aus wie Tagebau in der Lausitz. Schräg rechts liegt jetzt der Eingang zum neuen Park am Gleisdreieck. Die Menschen im „Umsteiger“ werden bald nicht mehr von Gewerbe, sondern von Parks umgeben sein.

Unten im „Umsteiger“ geht Michaela rum und schüttelt den Gästen einzeln die Hand. Man sitzt so dicht, als säßen alle an der Bar. Gäste bringen dem Dackel Hugo Würste mit. Das Buffet ist noch aus der Erstausstattung, der Humor ist von Loriot. Denn Sens hat sich hier seine eigene kleine Bühne gebaut, er bietet auch Lesungen mit Ringelnatz und spielt Loriots „Frühstücksei“. Wenn Martina durchs Fenster einen Stammkunden sieht, zapft sie sein Bier an. Warum rennen da draußen eigentlich alle? Wenn ein Stammkunde länger nicht auftaucht, erkundigen sie sich nach ihm. Zwei haben sie auf diese Weise in ihren Wohnungen schon tot gefunden.

Um kurz nach zehn ist der Spuk meist vorbei, um 22.48 Uhr geht der letzte Zug nach Hamburg vom Südkreuz aus, dann müssen jedenfalls die Hamburger Lokführer los. Sens setzt sich dann mit seiner Frau ins Auto und fährt nach Zehlendorf nach Hause. Eigentlich mag er gar keine Eisenbahnen. Er ist Omnibusfan.

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