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Barocke Platte. Die ältesten Häuser der Friedrichstadt: Der König ließ die Wohnhäuser, die in Massenbauweise enstanden, 1738 für die Prediger der Dreifaltigkeitskirche errichten.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berliner Häuser (18): Quadratisch, praktisch, mutig

Kirchenkampf, ja bitte: In den Barockbauten Ecke Glinka- und Taubenstraße in Mitte, den ältesten Gebäuden der Friedrichstadt, wohnen streitlustige Pfarrer Tür an Tür - seit 273 Jahren.

Das Gelb ist unübersehbar. Überall graues Gemäuer, Gründerzeit, Platte. Und dazwischen diese kleinen gelben Häuser, Eckhaus Glinkastraße 16 und Taubenstraße 3, Zwillingsgebäude mit quadratischem Grundriss, zwei Stockwerken und Doppeldach. Auch die Mauer dazwischen ist im barocken Dottergelb gestrichen. So leuchtet sonst nur der Altbau des Jüdischen Museums in der Kreuzberger Lindenstraße, das ehemalige Kollegienhaus von 1734.

Die zwei Predigerhäuser in Mitte haben fast genauso viele Jahre auf dem Buckel. Gemeinsam mit einem (heute zerstörten) dritten ließ König Friedrich Wilhelm I. sie 1738 für die Prediger der Dreifaltigkeitskirche in der Kanonierstraße errichten: das in der Taubenstraße für den lutherischen Pfarrer, das in der Glinka für den reformierten – und ein Eckhaus für Küster, Organist und Kirchendiener. Kostenpunkt, ohne Materialien: 8494 Thaler. Die Kirche wurde im Krieg zerstört, sie befand sich dort, wo jetzt in der Glinkastraße die Nordkoreanische Botschaft und ein City-Hostel untergebracht sind. Aber die zwei Wohnhäuser beherbergen bis heute Pfarrer und Gemeindeleute, seit 273 Jahren. Ein seltener Fall von ungebrochener Tradition in Berlin.

"Früher waren hier nur Sümpfe und Wälder"

Der berühmteste Bewohner war Prediger Friedrich Schleiermacher, weshalb das Barock-Ensemble auch unter dem Namen Schleiermacherhaus firmiert. Der Philosoph, Theologe und Mitbegründer der Berliner Universität lebte hier von 1809 bis 1816 und stand in der Dreifaltigkeitskirche bis 1834 auf der Kanzel.

„Hier ist der letzte Rest der Erstbebauung der Friedrichstadt“, ruft Pfarrer Stephan Frielinghaus der Besucherin zu, „vorher waren hier nur Sümpfe und Wälder“. Frielinghaus sitzt im Büro in der Taubenstraße 3, dem heutigen Gemeindehaus der Evangelischen Kirchengemeinde in der Friedrichstadt. Er wohnt nicht bei Schleiermachers, sein Kollege Matthias Loerbroks ist seit 1999 im Obergeschoss der Glinka 16 zu Hause. Der König hat ein ganzes Stadtviertel dieser gelben Häuser errichten lassen, sagt Loerbroks, auf Planquadraten wie in Mannheim. Die Parallelenstraßen des Viertels zeigen bis heute das barocke Straßenraster.

Im 19. Jahrhundert wurde gentrifiziert

Die Friedrichstadt erwies sich schnell als Immobilienblase. Zwar wurden Handwerker und Gewerbetreibende mit kostenlosem Baumaterial angelockt, aber viele zum Bauen genötigte Staatsdiener mussten ihre Häuser wegen Überschuldung billig wieder abstoßen. Auch das Militär wurde einquartiert: daher der Name Kanonierstraße, bis sie 1951 in Glinkastraße umgetauft wurde. Im 19. Jahrhundert wurde gentrifiziert, die Industriebosse bauten neue, höhere Häuser mit Gründerzeitflair. Die Leipziger Straße wurde zur Amüsiermeile mit Bierpalästen und Animierkneipen. So fielen die Schleiermacherhäuser, die einmal in Massenbauweise entstanden, quasi als Platte der Barockzeit, mehr und mehr aus der Zeit.

„Es ist schön, in einem so besonderen Haus zu leben“, sagt Pfarrer Loerbroks. Der Architekt der Friedrichstadt, Titus de Favre, liebte die Symmetrie und das Quadrat, das kann man sehen, innen wie außen. Gleichmäßig gegliederte Fassaden, ein Quadrat fürs Treppenhaus, auch die Räume basieren auf quadratischem Grundriss. Als das Eckhaus vor ein paar Jahren renoviert wurde, dauerte das fast ein Jahr. Wegen der Salze, die im Putz hochgeblüht waren. Es brauchte Geduld, bis das historische Gemäuer porentief gereinigt war. So ist das mit einem Haus, das älter ist als die Kanalisation von Berlin.

Die Kanzlerin im Supermarkt

Dafür gibt es reichlich Fenster, die Räume sind hell, trotz der hohen Bauten vis-à-vis. Und einen Garten gibt es, mit Platane, Rasen und Buschwerk, verwaisten Engeln von den gemeindeeigenen Friedhöfen und einer Metallskulptur von Rainer Düvell. Ein ummauerter Garten, mitten in Mitte, ein Paradies.

„Bloß die Gegend ist nicht toll. Hier wohnt kaum jemand,“ sagt der 55-jährige Pfarrer. Die Predigerhäuser sind von Ministerien umzingelt: Familienministerium, Arbeitsministerium, der Patientenbeauftragte des Gesundheitsministeriums, alles gegenüber oder nebenan. Wenn der Pfarrer einkaufen geht, trifft er im Supermarkt schon mal die Kanzlerin oder Franz Müntefering. Der Vorteil der Gegend: Man ist überall schnell, am Reichstag oder am Alex, in den Kreuzberger Gemeindefriedhöfen an der Bergmannstraße oder auf dem Dorotheenstädtischen an der Chausseestraße mit den vielen berühmten Toten. Pfarrer Loerbroks fährt mit dem Fahrrad zum Dienst.

Die hohe Staatsdichte hat Tradition. Wo jetzt das Familienministerium sitzt, war zur DDR-Zeit die Parteizentrale der Liberalen untergebracht; „Der Morgen“ prangte direkt gegenüber der Taubenstraße 3 groß an der Fassade. Auch die Ost-CDU, die SED-Parteizentrale und die Mauer lagen nicht weit. Im grenznahen Viertel durfte nicht jeder wohnen.

Die Barockhäuser als Kirchenkampfplatz

Zwei von drei Häusern stehen noch. Im Eckhaus wohnten die Kirchendiener, in der Taubenstraße (links) der lutherische Pfarrer, in der Glinkastraße der reformierte. Heute beherbergt die Taubenstraße 3 das Gemeindebüro.
Zwei von drei Häusern stehen noch. Im Eckhaus wohnten die Kirchendiener, in der Taubenstraße (links) der lutherische Pfarrer, in der Glinkastraße der reformierte. Heute beherbergt die Taubenstraße 3 das Gemeindebüro.

© Archiv der Dreifaltigkeitsgemeinde

Eine Tradition mit Vorgeschichte: Schon die allerersten Bewohner der Predigerhäuser waren ja von oberster Stelle eingesetzt, deuteten Gottes Wort in Königs Namen. Wobei die besondere Nähe von Thron und Altar nicht zur Folge hatte, dass hier die Liebediener hausten, Regimetreue, Katzbuckler. Im Gegenteil: Weil die Lutherischen und die Reformierten, die Traditionalisten und Avantgardisten sich hier von Anfang an zusammenraufen mussten, stritt man sich bei Schleiermachers mehr als anderswo. Unierte Gemeinden gab es damals sonst nicht. So sind die Barockhäuser seit jeher Kirchenkampfplatz, Heimat der Streitlustigen, Schauplatz von Kriegserklärungen und Friedensschlüssen zwischen Kirche und Politik, Religion und Wissenschaft, Ost und West. Das zieht sich durch die Geschichte, seit der König die kühne Idee hatte, die Streithähne seiner Zeit unter einem Kirchendach zu vereinen, aber mit zwei bis drei Wohnadressen. Zwar soll Friedrich Wilhelm gesagt haben, die Treppenhäuser seien deshalb so steil und eng, „damit die Pfaffen sich ducken lernen“, aber gefruchtet hat es nichts.

Lieber mit Schleiermacher in der Hölle als mit Marheineke im Himmel

Zunächst stritten die Pietisten gegen die Aufklärer, dann lieferte sich der reformierte Schleiermacher mit seinem königstreuen Pfarr- und Universitätskollegen Philipp Konrad Marheineke Fehden um die Unabhängigkeit der Kirche vom Hohenzollernhaus. Harmoniesucht der Geschichte: Heute liegen beide nah beieinander auf dem Dreifaltigkeitskirchhof in der Bergmannstraße, ungefähr dort, wo unweit der Marheineke-Markthalle die Schleiermacherstraße abgeht.

In der Ahnenreihe der Gemeinde wird das Andenken des Reformers und Freidenkers in Ehren gehalten. Beim Rundgang durchs Gemeindehaus zeigt Loerbroks die Schleiermacher-Büsten im Treppenhaus, in den Veranstaltungsräumen, im Garten. Im Salon hängt ein Schleiermacher in Öl: ein selbstbewusster Herr im Talar mit keckem Blick. Die Frauen schwärmten für den Gelehrten; lieber mit Schleiermacher in der Hölle als mit Marheineke im Himmel, soll eine von ihnen gesagt haben. Auch in den Salons seiner Zeit, bei Rahel Varnhagen und Henriette Herz war er beliebter Gast. Weshalb die Gemeinde seit 2002 einen eigenen Salon unterhält, jeden ersten Montag im Monat (Infos: evkg-friedrichstadt.de). Der Saal reicht für rund 40 Leute, hier gibt es Kammermusik, hier lasen und diskutierten Merkel, Wowereit, Klose und Bahr, aber auch Christa Wolf, Adolf Muschg, Volker Braun, F. C. Delius.

Rotarmisten zündeten das dritte Haus an

Staatstreue und Dissidenz: Bismarck und Kaiser Wilhelm gingen in die Dreifaltigkeitskirche, die Söhne von Wilhelm Zwo wurden hier konfirmiert, Hindenburg kam zur Andacht, aber auch Bonhoeffer predigte. In der NS-Zeit spaltete ein erbitterter Kirchenkampf die Gemeinde. Der nazitreue Pfarrer Baumgarten hisste die Hakenkreuzfahne, im anderen Pfarrhaus trafen sich Vertreter der Bekennenden Kirche mit Baumgartens widerständigen Kollegen Geest und Bronisch-Holtze. Man grüßte einander nicht mehr, schikanierte, denunzierte. Bronisch-Holtze wurde nach Königsberg strafversetzt und starb im dortigen Stadtgefängnis, ausgerechnet am 20. Juli 1944. Und ausgerechnet das Wohnhaus der Reformierten wurde kurz nach Kriegsende von Rotarmisten angezündet. Angeblich fanden sie im Keller Feldprediger-Uniformen aus dem Ersten Weltkrieg, die sie für Nazi-Uniformen hielten. Deshalb stehen heute nur noch zwei der drei Häuser.

Die „Mischung aus Stolz und Katakombenbewusstsein“ (Loerbroks), setzte sich zu DDR-Zeiten fort. Geteiltes Land, geteilte Friedrichstadt: Noch bis September 1961, Wochen nach dem Mauerbau, flitzte der damalige Pfarrer über die Grenze, um Gottesdienste hüben wie drüben abzuhalten. In der Taubenstraße behalf man sich mit Wohnzimmer-Gottesdiensten, bis die im Obergeschoss wohnende Pfarrerin den Sprung auf den Präsentierteller in den restaurierten Französischen Dom auf dem Gendarmenmarkt wagte. Und in der Glinkastraße wohnte der Leiter des Ost-Berliner Bibelwerks.

Aus sechs Gemeinden mach drei mach eine

Übung macht den Meister. Nach dem Mauerfall stemmten die Friedrichstädter eine in Berlin einmalige Ost-West-Fusion: Aus sechs Gemeinden mach drei mach eine. Die Friedrichstadt-Gemeinden, die ein Gebiet von der Spree bis zum Mehringplatz versorgten, waren nach Kriegsende zu drei Doppelgemeinden zusammengefasst worden: eine in Mitte, zwei in Kreuzberg. Dieses Trio schloss sich im März 2001 zur Evangelischen Kirchengemeinde in der Friedrichstadt zusammen, mit heute gut 2000 Mitgliedern und dem Französischen Dom als Hauptkirche.

Die Platane im Garten verliert ihre letzten Blätter, aus der Taubenstraße kann man ihr Astwerk fast mit Händen greifen. „Die muss herbeigeweht sein“, meint Loerbroks, „so nah würde nie jemand einen Baum an ein Haus pflanzen“. Der Wildwuchs mitten im Regierungsviertel erinnert an die Wälder und Sümpfe von einst. Und an die Herausforderung für die Bewohner der Schleiermacherhäuser, dem Erbe der Streitlust gerecht zu werden.

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