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Berliner Häuser (3): Die Boheme vom Müggelsee

In der Friedrichshagener Scharnweberstraße 59 wirkte Carl Lemke als Verleger. Heute ist hier ein Antiquariat.

Im Jahr 1990 stand eine junge Frau lange vor einer Friedrichshagener Ruine. Die Ruine war eigentlich nichts Besonderes, ja, die DDR bestand neben Plattenbauten aus Häusern wie diesen.

Sozialismus ist, wenn niemand mehr Angst haben muss, seine Miete nicht bezahlen zu können, glaubten die regierenden Kommunisten, weshalb DDR-Bürger zu einem eher symbolischen Betrag wohnen durften. Den etwas älteren Häusern, die wie dieses in der Scharnweberstraße 59 noch aus dem Kapitalismus stammten, fehlte schon ihrer Herkunft halber jeder Sinn für den sozialen Fortschritt. Sie bildeten bald subversive Löcher in ihren Dächern und begannen ganz und gar unsymbolisch und offen sozialismusfeindlich einzufallen. Bevor aber das letzte alte Haus der DDR eingestürzt war, kam der Herbst 1989. Nun ging es den Häusern bald wieder besser, dafür mussten die Menschen sehen, wo sie blieben.

Hier!, dachte die Buchhändlerin Katrin Brandel sofort. Und sie sah auch nicht die real existierende Ruine, sondern vielmehr das Haus, wie es genau 100 Jahre zuvor gewesen sein musste. Schlicht, zwei Stockwerke, kein Balkon, kein Vergleich zu den Villen ringsum, denen die Losung „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ auch nicht gut bekommen war. War dieses Haus nicht etwas dazwischen: bescheiden, und doch großzügig, eine Art Palasthütte? Vor allem aber: Es war das Haus eines Buchmenschen, nun gut, eines Zeitungsmenschen. Es war das Haus des Friedrichshagener Zeitungspioniers schlechthin. Das Haus Carl Lemkes. Hat jemand, der sich hauptberuflich mit bedrucktem Papier befasst, nicht eine Verpflichtung gegenüber dem Haus eines Menschen, der das schon vor ihm machte?, überlegte die Buchhändlerin.

1889 gründete Lemke hier in der Scharnweberstraße 53 – heute 59 – „Verlag und Buchdruckerei der Niederbarnimer Zeitung“. Das war recht verwegen, denn noch 150 Jahre zuvor war in ganz Friedrichshagen – gar nichts. Nichts als Waldesstille. Jedes Dorf verfügt über eine längere, ruhmreichere Geschichte. Doch dann ließ Friedrich II. zur Förderung der Zivilisation in seinem Sandreich eine Schneise durch den Wald bis an den Müggelsee schlagen. Das war 1753. Links und rechts ließ er kleine Häuser bauen. Für die erhofften Kolonisten, die ersten Friedrichshagener.

Und sie kamen wirklich, sie kamen aus Böhmen und Württemberg, aus Sachsen und Hessen. Und damit sie nicht verhungern mussten, ließ Friedrich an die Schneise in zwei Reihen Maulbeerbäume pflanzen. Mit denen, überlegte er, können sie ihre Seidenraupen füttern und Seide spinnen und reich werden. In Friedrichs Rechnung war nur ein Fehler: Die Seidenraupen vertrugen das Müggelseeklima nicht und gingen gleich wieder ein. Die Schneisenanwohner versuchten es fortan mit Besenbinden und Baumwollspinnen. Aber brauchten sie wirklich eine eigene Zeitung?

Man kennt die Schneise heute besser als Bölschestraße, sie ist die Friedrichshagener Magistrale. Wahrscheinlich ist auch die junge Frau aus Köpenick mit dem Ruinenverwandlungsblick meist die Bölschestraße hinunter an den See gegangen, was ein Fehler ist, denn so sieht man nicht, wie schön die Parallelstraße, die Scharnweberstraße ist. Sie war ursprünglich nur ein Feldweg, über den die unglücklichen Seidenraupenzüchter auch von hinten in ihre Häuser kommen konnten.

Das 1992 wiedererstandene Haus Carl Lemkes ist heute Antiquariat, Verlag, Museum und Galerie zugleich (Öffnungszeiten: Mi–Fr 12–18 Uhr, Sa 9.30–12 Uhr). Verlag und Museum hat Katrin Brandel all denen gewidmet, die kurz nach Carl Lemke begannen, Friedrichshagen zur Hauptstadt des gedruckten Buchstabens zu machen. Ihnen und ihren vielen Häusern, denn Häuser überleben ihre Bewohner fast immer. Und mit deren wachsendem Erfolg wurden sie immer größer und schöner.

Bölsche wohnte am Ende in einer Villa am Müggelsee. Der Anfang aber fand gleich neben Lemke statt: Carl Lemke saß noch kein Jahr in der Scharnweberstraße und gab unverdrossen die „Niederbarnimer Zeitung“ heraus, als zwei Herren, 30 Jahre alt, den Berliner Vorortbahnhof Friedrichshagen verließen. Der eine war fast zwei Meter groß, der andere eher klein. Sie hatten soeben ihren fünften Berliner Winter überlebt, den sie meist, Vorträge haltend, in den Hinterzimmern verrauchter Kneipen verbrachten.

Der eine wird als Erfinder des modernen Sachbuchs sowie als Autor des Bestsellers „Das Liebesleben in der Natur“ im Gedächtnis bleiben, der andere wird sich eine bleibende Mitschuld an der liederlichen Glaubensverfassung der Berliner erwerben. Es sind Wilhelm Bölsche und Bruno Wille. Und wenn sie im Augenblick überhaupt noch an etwas glaubten, dann höchstens an den kommenden Sommer 1890 und das Evangelium der Natur. Es ist eine übergroße Sehnsucht in ihnen – nach dem Anblick einer blühenden Kartoffelpflanze.

Doch vor dem Bahnhof wuchsen keine Kartoffeln, sondern die letzten von Friedrichs Maulbeerbäumen. Was für ein Klima!, dachten Wilhelm Bölsche und Bruno Wille anders als die Seidenraupen 137 Jahre zuvor, und es wurde ihnen ganz weit in Kopf und Herz: „Auferstehung! Wir leben in einer Zeit der Auferstehung! Die tote Scholle bricht und gebärt Lebendiges. Überall Zeichen … Überall der unbewusste, unbeirrbare Prophetengeist, der vor dem Messias geht.“ So wirkte Friedrichshagen auf die Neukolonisten.

Und so stand es in der Zeitschrift, die Wilhelm Bölsche nun gleich in der Scharnweberstraße 73 herausgeben würde, fast als Lemkes Nachbar. Der Messias war natürlich nicht Jesus Christus, sondern gewissermaßen die Schnittmenge aus einer Kartoffelblüte und dem gerade ungemein expandierenden Geist Friedrich Nietzsches. Bleibt der Erde treu!

Und so zogen Wilhelm Bölsche und Bruno Wille um, schon im Sommer 1890, von Friedrichshain nach Friedrichshagen. Und nach ihnen zogen die gefürchteten Journalisten Heinrich und Julius Hart um. Und dann zog das schwedische Schriftstellerehepaar Ola Hansson und Laura Marholm um. Und dann zog August Strindberg um. Und immer so weiter. Keine drei Jahre, und alle waren sie in Friedrichshagen. Nur einer zog nicht um, denn der war schon da, sogar noch etwas weiter draußen: Gerhard Hauptmann in Erkner. Wenn sich aber alle treffen wollten, dann sagten sie meist: Wir gehen zu Bölsches! Da war immer jemand zu Besuch.

Bölsche also saß in der Scharnweberstraße 73 und redigierte die Wochenschrift „Freie Bühne für modernes Leben“, gleich um die Ecke leitete Bruno Wille von der Kurzen Straße aus den Verein „Freie Volksbühne“; die früheren Redakteure der „Kritischen Waffengänge“ sowie der „Berliner Monatshefte für Literatur, Kritik und Theater“ Julius und Heinrich Hart schrieben jetzt meist Theaterkritiken, die einer von beiden noch vor dem Frühstück in die Berliner Redaktionen brachte. Peter Hille, Dichter und Streuner, beinahe verhungert in der Berliner Wöhlertstraße, kam sie oft besuchen und dichtete ohnehin immer.

Halb Friedrichshagen gab plötzlich Zeitungen und Zeitschriften heraus und hielt Vorträge – wenn es nicht gerade Gedichte, Romane und Dramen schrieb –, was einerseits an der signifikant neuen Bevölkerungsstruktur und andererseits am Geist der Zeit lag.

Den restlichen Teil des Tages verbrachten fast alle in der Wahrnehmung: Wie gut, dass wir hier sind und nicht in Berlin! Julius Hart: „Walpurgis ist kommen,/ der Maien ist da/ und uns allen ist heute/ der Antichrist nah./ Mit Tulpen und gelben Crokus/ drum schmückt eure Stirn,/ und lasst die grünen Gläser/ hell singen und klirrn …“.

Carl Lemke aber war der Erste gewesen. Und da die literarische Avantgarde Berlins nun plötzlich hier war, lag folgerichtig nicht länger Friedrichshagen hinterm Mond als vielmehr Berlin. Eine eigene Tageszeitung war das Mindeste, was man sich schuldig war. Und von Katrin Brandels Haus aus, versehen mit ihren literarischen Wegweiser-Heften, findet man noch heute leicht die Adressen aller anderen.

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