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Berliner Häuser (8): Bis sich die Wände biegen

Im Studentendorf Schlachtensee ist das Haus 4 das Vorzeigeobjekt für die Sanierung der historischen Anlage.

Anders als viele ehemalige Weiler, die heute fast nur noch dem Namen nach existieren, hat sich dieses Dorf seine Identität, seine Behaglichkeit und Abschottung, bewahrt. Mit einem richtigen Platz in der Mitte, sogar einem Teich. Mit Seerosen und Goldfischen darin ist er allerdings alles andere als ein gewöhnlicher Pfuhl, wie man ihn vom Lande kennt. Vielmehr soll er ein „Spiegel der Demokratie“ sein, so haben es sich damals die Erbauer des Studentendorfes – die Berliner Architekten Hermann Fehling, Daniel Gogel, Peter Pfankuch und der Gartengestalter Hermann Mattern – gedacht.

Damals, das war Mitte der fünfziger Jahre, und das Studentendorf galt als Prestigeobjekt der Freien Universität, die damit ihren Studierenden im Südwesten der Stadt unweit der Fakultäten ein Quartier anbieten konnte. Knapp anderthalb Jahrzehnte nach Kriegsende mangelte es an Wohnraum in der nach wie vor von Ruinen gezeichneten Stadt. Die Finanzierung übernahm das State Department der Vereinigten Staaten als Reeducation-Maßnahme für die künftigen Entscheidungsträger der jungen Bundesrepublik. Freiheitliche Werte, Demokratie, Internationalität sollten hier umgesetzt werden, weshalb zu den Besonderheiten der Anlage auch ein Tutorenprogramm gehörte, das jedoch mangels Nachfrage recht schnell wieder eingestellt wurde. Statt zu theoretisieren, übten sich die Studenten lieber in der Praxis – etwa durch die Organisation von Partys.

Der Gründungsgedanke lässt sich am 5,3 Hektar großen Areal ablesen, er schlägt sich architektonisch im kleinen Campus nieder, um den terrassenförmig die einzelnen Wohnheime sowie das Gemeinschaftshaus angeordnet liegen, 28 Gebäude insgesamt. Auch heute noch trägt der zentrale Bau direkt am Ufer des Tümpels die Bezeichnung „Rathaus“. Seine kompakte Silhouette zeichnet sich im „Spiegel“ der Wasseroberfläche.

Im realen Gebäude residiert Jan-Uwe Köhler, einst selbst Bewohner, inzwischen Finanzvorstand der Genossenschaft, die heute die Geschicke des Studentendorfes lenkt. Von seinem Büro aus kann Köhler das Kommen und Gehen der Studierenden übersehen. Knapp 900 junge Menschen aus über 30 verschiedenen Nationen leben hier. Die Auslastung liegt bei 97 Prozent.

Wenn sich der studierte Germanist ein wenig vorschiebt, an den original erhaltenen luftigen Wandregalen vorbei, dann kann er auch Haus 4 aus der Gründerzeit erblicken – neben dem ebenfalls sanierten Haus 8 ein Vorzeigeobjekt dieser besonderen Siedlung. Beide Häuser, das Dorf insgesamt, würden längst nicht mehr existieren, hätten sich 2002 die letzten 20 verbliebenen Studenten nicht zur Wehr gesetzt. Jan-Uwe Köhler gehörte damals zu ihnen. Die Ähnlichkeit mit jenem widerspenstigen Dorf im alten Gallien, in dem sich die Bewohner gegen die Übermacht der Römer behaupteten, ist offensichtlich. In Schlachtensee jedoch trug der Feind nicht Helm und Schwert, sondern Kosten-Nutzen-Rechnungen vor sich her. Denn das Studentendorf machte mangels Mietern Schulden. Der damalige Gegner war der Berliner Senat, und als sein glückloser Centurio agierte ausgerechnet der Kultur- und Wissenschaftssenator Peter Radunski.

Aber ebenso wie Asterix und Obelix heute zum französischen Patrimonium gehören, stellt auch das Studentendorf inzwischen ein Denkmal von nationaler kultureller Bedeutung dar. Zu guter Letzt, nachdem das Studentendorf beim Immobilienpoker beinahe als Gegenwert für die Kreuzberger Schultheiss-Brauerei (damals noch als künftiges Quartier der Berlinischen Galerie gehandelt) in den Investorenschlund geworfen worden wäre, entschieden sich 2003 die nun in einer Genossenschaft vereinten Studenten selbst zum Erwerb der Siedlung. Ein dramatischer Moment, denn die geforderten fünf Millionen Euro konnten sie nur durch den Verkauf der beiden Parkplätze an einen Aldi-Markt und einen Häuslebauer erbringen. Die Sanierung für über 20 Millionen Euro wird voraussichtlich bis zum Jahr 2017 abgeschlossen sein.

Haus 4 besitzt deshalb einen besonderen Wert. So schön sollen auch die anderen Gebäude einmal werden. In hellem Weiß erstrahlt der Kubus, das schwarze Fensterband setzt sich scharf dagegen ab. Im Inneren zieht sich das Treppenhaus luftig in die Höhe, ein eleganter Handlauf schraubt sich hinauf. Die Gemeinschaftsküchen auf jeder Etage mit ihren gläsernen Wänden bekunden Transparenz. Auch die alte Farbe, etwa das Blau der Mauern im Inneren, ist wieder da. Sogar der Abdruck eines Fußballs, der damals im noch feuchten Holzlack der Eingangsdecke gelandet war, wurde rekonstruiert. Plötzlich wird etwas vom Bauhaus-Erbe sichtbar, das durch die zunehmende Verrottung der Gebäude kaum noch zu erkennen war.

So fortschrittlich das Studentendorf gedacht war mit seinen Ideen vom demokratischen Bauen, so sehr litt es doch von vornherein unter den Schwächen der Nachkriegsmoderne und der schlechten Qualität des Baumaterials: Das filigrane Stützwerk der Fensterbänder rostete sogleich, Kondenswasser setzte sich an den Scheiben ab, das Flachdach hielt dem Regen nicht lange stand, mit der Feuchtigkeit zog auch der Schimmel ein. Die bereits 1961 erstellte Mängelliste ist 20 Seiten lang. Kein Wunder, dass die Geschichte des Studentendorfes immer vom Ruf nach Abriss begleitet war: Allerdings nicht nur weil die Bauten in einem zunehmend desolaten Zustand waren, sondern auch weil Gemeinschaftsbäder, eine Küche für 13 Parteien auf einem Gang und der Zuschnitt von gerade einmal zehn Quadratmeter großen Zimmern nicht mehr der Zeit entsprachen. Als Anfang der achtziger Jahre der Abriss diskutiert wurde, sollten komplett neue Wohnheime mit Apartments entstehen, obwohl die Anlage mittlerweile unter Denkmalschutz gestellt war. Rettung nahte von anderer Seite, der erneuten Wohnungsnot. So schnell konnte gar nicht gebaut werden, wie Raum benötigt wurde. Der Senat gab schon damals den Protesten der Bewohner nach.

Bei der jetzigen Sanierung wird nun vorsichtig in die Grundrisse der „Buden mit Außenklo“ eingegriffen, wie sie von den Studenten liebevoll-spöttisch genannt werden. Mal werden zwei Zehn- Quadratmeter-Zimmer zusammengeschlossen, mal die Gemeinschaftsräume umgenutzt. Mittlerweile sind die schmalen Quartiere auch wieder stark gefragt, denn die Mieten steigen in Berlin, und für so manchen Studenten ist das Wohnheim die passende Zwischenstufe auf dem Weg von der familiären Kuscheligkeit daheim zur großen Freiheit in der Fremde. Rund 9000 Plätze gibt es insgesamt in Berlin.

Die Sozialpädagogin Diana Schenk blieb sechs Jahre in Schlachtensee. Das etwas größere Endstück vom Flur genügte ihr. Nun packt sie ihre Sachen. Den hohen Geräuschpegel trug sie mit Fassung. Nur einmal schritt sie ein: als sich die Gäste ihres Nachbarn gegen die hölzerne Zwischenwand lehnten und die sich gefährlich durchbog. Gerade diese Nähe mochte sie: gemeinsam kochen, Feste feiern und Freundschaften schließen. Wenn da nicht die Seminare, Hausaufgaben, Prüfungen wären, könnte man sich lauschig auf dem Lande wähnen.

Der Traum, die große Utopie vom harmonischen Zusammenleben ist im Studentendorf noch nicht aufgegeben. Die Bewohner mögen es zwar pragmatisch nehmen, die meisten zieht es spätestens nach ein, zwei Jahren fort in die Studentenhochburgen Friedrichshain und Kreuzkölln. Irgendwann sind sie den Nachtbus leid. Doch das Projekt Studentendorf bleibt auch nach über einem halben Jahrhundert ambitioniert – allein der Architektur wegen.

Das Studentendorf, Wasgenstr. 75, kann am 10. 9. zwischen 11 und 16 Uhr beim Tag des offenen Denkmals besichtigt werden.

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