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Prenzlauer Berg, wie es ist und war. Durch den Hof in der Kastanienallee 12 geht es auf das jetzt private Gelände des einst öffentlichen alten Hirschhofs.

© Thilo Rückeis TSP

Berliner Höfe (1): Hirschhof in Prenzlauer Berg: Der versunkene Garten

Wo der Osten subversiv und grün war: Mit dem Hirschhof in Prenzlauer Berg starten wir unsere Sommerserie "Berliner Höfe".

Blond ist der Klettermaxe. Zieht sich am Metallzaun hinauf. Schwingt sich aufs Mäuerchen. Streift die türkisen Socken aus, packt sie auf die Mauer, lässt sich kichernd diesseits hinab. Ein freier Kindersommer kennt nur nackte Füße, selbst beim illegalen Grenzübertritt. Und was einer kann, das können viele. Ein, zwei, drei weitere Kinder tun es ihm gleich. Verlassen ihren Buddelkasten auf dem Hof hinter dem Zaun, auf dem sie eben noch Fangen spielten. Klettern über Zaun und Mauer und schauen sich die Welt mal von der anderen Seite an. Die im Prenzlauer Berg, die Neuer Hirschhof heißt und seit drei Jahren ein Spielplatz in der Oderberger Straße 19 ist.

Hirschhof? Nee! Harald Hauswald schüttelt das ergraute Hippiehaupt. Das ist doch kein Hirschhof hier, spricht der Doyen der DDR-Fotografie und Mitbegründer der Agentur Ostkreuz. Mit der brennenden Zigarette in der Hand weist er nach drüben, über die Mauer, dahin, wo jetzt eine Mutter steht und mit den ausgebüchsten Kindern über die Bedingungen für deren Rückkehr debattiert. Hauswalds Stimme hat so viel Nachdruck wie ihre, als er sagt: „Das ist der Hirschhof!“

Da hat er recht. Zumindest war er das, bis im vergangenen Jahr der Bundesgerichtshof den Wunsch des Bezirksamts Pankow endgültig abschlägig beschied, die über Jahrzehnte öffentlich genutzte Grünfläche zwischen der Oderberger Straße 15 bis 17 und der Kastanienallee 10 bis 12 für eben diese zu erhalten.

Nun trennen Zäune die privaten Gärten voneinander. Und die Mauer zum vom Bezirk als Ausweichgelände angelegten Spielplatz wurde wieder hergestellt.

Dafür ist der Hirsch weg, das namensgebende Wahrzeichen. Eine fast drei Meter hohe Drahtskulptur der Bildhauer Hans Scheib, Anatol Erdmann und Stefan Reichmann, die den legendären Hof, einst Nachbarschafts- wie Subkulturtreff, in den achtziger Jahren künstlerisch gestaltet haben. Harald Hauswald stutzt. Weg, wie weg? Vom Bezirksamt eingelagert, wie Stadtrat Jens-Holger Kirchner weiß. Auf dem Werkhof Kniprodestraße harrt das vom früheren Kastanienallee 11-Anrainer Hauswald vielfach fotografierte Symbol oppositionellen Lebens in der DDR nebst anderer Hirschhof-Kunst seiner Wiederaufstellung auf dem neuen Hof. Und zwar mit abgesägten Knien. Nicht, weil mit seiner Bergung hier die Hinterhoffreiheit in die Knie ging, sondern weil er anders nicht zu transportieren war.

Nächstes Jahr, wenn das jetzt noch im Umbau befindliche Häuschen gleich neben den Tischtennisplatten auf dem neuen Gelände als Platzhaus für jedermann eröffnet wird, soll der Hirsch wieder zur alten Größe und vor allem zum Hof finden.

Nicht, dass der jetzt keinen hätte. Auf dem aus Holz und Metall turnt unter dem hohen Himmel über dem sanft ansteigenden Gelände gerade ein Englisch sprechender Junge. Ein anderer ziert als farbiges Graffiti die ordentlich verputzte Wand des Nachbarhauses. Doch mit dem subversiven Schrottnimbus des Originals können die zahmen Geweihträger nicht konkurrieren. So wenig wie der neue Hirschhof den romantischen Zauber und die bunte Menschenmischung des „Paradiesgartens“ hat, den die Schriftstellerin Daniela Dahn 1987 in einem Kapitel ihres Buches „Prenzlauer Berg-Tour“ plastisch eingefangen hat.

Der alte Hirschhof, das war ein von Nachbarn wie dem Grafikerehepaar Gisela und Eberhard Neumann und dem Puppenspieler Gerhard Götz in der wohl ersten Bürgerinitiative der DDR überhaupt erkämpfte Hinterhofpark. Die Reste sind bei einem teilweise noch möglichen Hofstreifzug ebenso zu sehen wie vom neuen Hirschhof aus. Hohe Bäume, idyllisches Grün und der mit steinernen Bruchstücken von Berliner Dom und Stadtschloss eingefasste Spielplatz.

Der ehemalige Gartenamtsleiter kann es immer noch nicht fassen, dass der Bezirk den Hof an Privateigentümer verloren hat

Auf Zeitreise. Die namensgebende Skulptur im Hirschhof hat Harald Hauswald 1985 dort fotografiert.
Auf Zeitreise. Die namensgebende Skulptur im Hirschhof hat Harald Hauswald 1985 dort fotografiert.

© Harald Hauswald (mit freundlicher Genehmigung)

Um die 300 000 DDR-Mark investierte die Stadt Anfang der Achtziger, um aus der wüsten Abrissbrache, an die sich Eberhard Neumann, der 1965 in die Oderberger 16 zog, noch bestens erinnern kann, Spielplatz und Grün zu machen. Mit den bewegten Bürgern paktierender Gartenamtsleiter war Wolfgang Krause, heute ein ausgesprochen gut erhaltener Unruheständler, der – genau wie sein Chef, der Stadtrat – bei allem Verständnis für Privatinteressen und aller Einsicht in amtliche Versäumnisse immer noch nicht fassen kann, dass der Bezirk den Hof an Privateigentümer verloren hat. Wo er doch einst in für die DDR völlig neuem Einvernehmen mit Bürgern und Künstlern gewonnene Oase im extrem verdichteten Prenzlauer Berg war. Hundert Plätze fasste das integrierte Amphitheater. Es gab Filmvorführungen, Hoffeste, Konzerte, Theater und vor allem Freiraum. Nicht einen, sondern viele Hirschhöfe, jedermanns eigenen. Das wird schnell klar, wenn Krause, Kirchner, Neumann und Hauswald verschiedene Geschichten vom Hirschhof erzählen, aber nur von einem Nachbarschaftsgeist.

Den kennt auch die Objektkünstlerin Käthe Wenzel, die 1999 die Galerie „Kurt im Hirsch“ in der Kastanienallee 12 mitgründete und obendrüber ihr Atelier hat. Die in den Garten mündenden Höfe zu durchschreiten, die hier aufeinander folgen, gleicht einer Zeitreise in die Achtziger. Vorderhaus und drei Quergebäude, Flurgraffiti, dunkle Fassaden, bröckelnde Fenstersimse, Lianen aus Elektrokabeln.

Den Namen hat der Galerieverein mit Bedacht als Reminiszenz an die widerständigen Ost-Zeiten gewählt, auch wenn die in den 2000er Jahren, als die Ehrenamtler hier Kurzfilmfestivals im verwaisten Amphitheater veranstalteten, schon vorüber waren. Im Gegensatz zur Legende, die den Ort bis heute umweht. „Der Hirschhof war eine Landmarke, die jeder kannte“, sagt die in Aachen geborene Künstlerin. Ihr Trost im Ärger über den Verlust: Touristen, die ihn regelmäßig suchen, finden stattdessen die freie Galerie.

Der urbane bürgerliche oder proletarische Hof ist ein mythischer Ort in Berlin

Und dazu das verwitterte Modell einer Mehrhofanlage, wie sie berlinischer nimmer geht. Sinnbild für die einzigartigen Hoflandschaften, die als Mischnutzung zwischen Wohnen und Gewerbe großenteils zwischen 1871 und 1925 in der rasant an Bevölkerung zulegenden Hauptstadt entstanden, wenn sie nicht ein Jahrhundert zuvor schon Vorstadthöfe mit Ställen und Remisen waren.

Berlin ist die Stadt der Höfe. Und der urbane bürgerliche oder proletarische Hof ist ein mythischer-, halb öffentlicher, halb privater Ort, der in Filmen wie „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“, in Theaterstücken wie „Krach im Hinterhaus“, in Zille-Zeichnungen, in Gedichten, Briefen und Romanen von Mascha Kaléko, über Gottfried Keller bis Günter de Bruyn Eingang in das kulturelle Bewusstsein gefunden hat. Baugeschichtlich überraschenderweise ohne eine aktuelle Überblicksdarstellung, wie der Berliner Autor Wolfgang Feyerabend feststellt, der gerade an seinem im Herbst erscheinenden Buch „Berliner Hinterhöfe“ sitzt.

Darin wird auch der Hirschhof vorkommen. Mit einer baugeschichtlichen Erläuterung der Kastanienallee 12, die 1890 vom Zimmermeister Wilhelm Nordhausen errichtet wurde. Und der Feststellung, dass sich der Hof zu DDR-Zeiten großer Bekanntheit erfreute. „Nicht nur als Treffpunkt bei den Anwohnern beliebt, sondern auch bei der Ostberliner Untergrundszene, erregte der Hirschhof bald das Misstrauen der Staatssicherheit.“

Der Hirschhof ist ein Hof mit Stasi- Akte. Eine ziemliche Seltenheit das, erzählt auch Stadtrat Kirchner, der sie beim verlorenen Prozess als historisches Dokument vorgelegt hat. Von 1984 bis 1988 ziehen sich die Berichte. Beargwöhnen regelmäßige Hofbesucher, loben oder kritisieren das Kulturprogramm und zollen dem Nachbarschaftsengagement rund um den Hof mal widerwillig, mal offen Respekt.

Ein Auszug aus dem späten IM-Bericht vom 16. Juni 1989 über den Auftritt eines Schriftstellers, der im Hirschhof regelmäßig Kulturprogramme veranstaltete: „Auf dem gestalteten Hinterhof waren ca. 30 bis 50 Leute anwesend, vom Punky, über den älteren Literaten, einige Union-Fans bis hin zum einfachen, angetrunkenen Busfahrer. Tschappy stand mit einem Mikro in einem Buddelkasten und schrie deftige Texte aus sich heraus. Er wurde von einer stark verzerrten E-Gitarre begleitet. Es handelte sich bei dem Musiker um einen übriggebliebenen der Punk-Band ,Rosa Beton‘. Der Sound war dementsprechend dissonant. (...) Die Texte kamen an. Es war ein Gesang auf die Leute, die hierbleiben wollen und anders leben.“

Harald Hauswald ist auch als Konzertbesucher genannt. Nicht nur in diesem Bericht. „Hoffotograf“ heißt er dort. Und weiß an diesem Julinachmittag dreißig Jahre später noch nicht mal was davon. Hoffotograf? Er rollt mit den Augen. Von dem Titel hat er so wenig wie von der Akte Hirschhof gehört. Immerhin: sie ist dünner als seine eigene. „Die Dödel sind mir doch überall hin nachgerannt.“ Insofern dann doch wenig überraschend, dass auch hierhin. Der Hirschhof sei der Stasi zu- pass gekommen, glaubt er. „Da hatten sie uns alle auf einem Haufen.“

Warum er trotzdem so oft hingegangen ist? Verständnisloser Blick. „Weil’s Spaß gemacht hat. Gute Veranstaltungen, nette Leute, einfach ein guter Ort.“ Von historischer Bedeutung? Hauswald wiegt unschlüssig das Haupt. Ein Straßenköter wie er mag keine hochtrabenden Klassifizierungen. Und in Stein gemeißelte Verhältnisse schon gar nicht. Auch wenn er den „kläglichen Abgang“ des alten Hofs bedauert. Er schaut in die Ferne. „Wenn das Gelände jetzt privat ist, ist es das halt.“

Und der Klettermaxe, die Zukunft des Prenzlauer Bergs? Die Kinder quietschen jetzt längst wieder auf ihrer Seite des Zauns, im Sandkasten mit den Trümmerteilen, die angeblich mal zum Berliner Schloss gehörten, in ihrer eigenen Hinterhoffreiheit, die mal jedermanns Hirschhof war.

Letztes Jahr präsentierten wir an dieser Stelle die Reihe "Berliner Türme". Alle Texte dazu finden Sie unter www.tagesspiegel.de/berliner-tuerme

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