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Rhythm is it. Nicht nur in der Musik hat Sir Simon Rattle das rechte Gespür für Timing. Darum soll nach 16 Jahren der Schlussakkord seiner Berliner Ära erklingen.

© dpa

Berliner Philharmoniker: Nachfolger für Simon Rattle gesucht

Stardirigent Simon Rattle wird 2018 seinen Chefposten bei den Berliner Philharmonikern aufgeben. Nun wird bereits fleißig diskutiert. Wer könnte Rattle nachfolgen?

Seit dem 10. Januar darf sich jeder Dirigent, der vor die Berliner Philharmoniker tritt, wie im Bewerbungsgespräch fühlen. An diesem Tag nämlich verkündete Simon Rattle, dass er seinen Vertrag als künstlerischer Leiter des Orchesters zum Sommer 2018 auslaufen lassen wird. Nach 16 Jahren in der deutschen Hauptstadt will er den begehrtesten Posten der Musikwelt freigeben, für einen Jüngeren. Dass der Brite seinen Entschluss so früh öffentlich kundtut, zeigt, wie freundschaftlich er seinen Philharmonikern verbunden ist. Denn nun können sich die basisdemokratisch organisierten Musiker sofort mit der Nachfolgefrage befassen. Im Spitzensegment des globalen Klassikbusiness machen die Maestri mindestens drei Jahre im Voraus ihre Terminkalender dicht. Wer auch immer in fünf Jahren zum Saisonstart in der Philharmonie den Taktstock heben wird – er sollte möglichst bald von seinem Glück erfahren.

Simon Rattle ist eine Ausnahmeerscheinung im Berliner Kulturleben. Nicht allein, was seinen Charme und seinen Humor betrifft, seine stilistische Neugier und die Spannweite seines Repertoires. Sondern eben auch aufgrund der Tatsache, dass er bereit ist, sich von dieser Stadt loszureißen. Bei Rot sollst du gehen? Lange erlebte man in Berlin das Gegenteil. Wer einmal da war, blieb gerne bis ultimo. Ausgerechnet im vitalen Berlin, dieser ewig werdenden, niemals fertigen Kapitale, als deren Kapital nicht erst heute die junge, visionär denkende und prekär lebende Szene angesehen wird, ist die Verweildauer auf den Intendantensesseln oft besonders hoch.

Ulrich Eckhardt kam 1973 und blieb 27 Jahre Intendant der Berliner Festspiele, Götz Friedrichs 1981 begonnene Amtszeit an der Deutschen Oper beendete erst sein Tod im Jahr 2000, Harry Kupfer prägte die Komische Oper von 1981 bis 2002. Wie oft schon wurde der Untergang des 1992 gestarteten Systems Frank Castorf an der Volksbühne beschworen – und er ist immer noch da, mit einem Vertrag bis 2016 in der Tasche. Wie oft hat Claus Peymann seit seinem Amtsantritt 1999 damit gedroht, am Berliner Ensemble hinzuwerfen, wenn seine Arbeit nicht angemessen gewürdigt werde? Er sitzt noch mindestens bis Sommer 2014 am Schiffbauerdamm. Daniel Barenboim konnte gerade 20 Jahre an der Staatsoper feiern, sein Vertrag wurde zum Jubiläum prompt bis 2022 verlängert. Und selbst Thomas Ostermeier, der als blutjunger Hoffnungsträger an die Schaubühne kam, um der ergrauten Avantgardebühne den Weg ins 21. Jahrhundert zu weisen, waltet nun schon seit mehr als 13 Jahren am Lehniner Platz.

Natürlich lässt sich dieses Beharrungsvermögen in den Top-Institutionen lokalpatriotisch als Hommage an den Berliner Esprit verstehen, an jenen flotten Geist, der im rotzigen, rührigen Spreeathen weht. An ein Publikum auch, das kenntnisreich ist, aber nicht snobistisch, das gerne mitgeht, in jede nur erdenkliche Richtung, das nicht auf den Mund gefallen ist, weder beim Bravo- noch beim Buhrufen.

Der Nachteil dieses Phänomens: Mit der Zeit werden die Chefs selber zu Institutionen, ursprünglich innovative Projekte erstarren in der Routine. Wo es anders verläuft, wo die Namen schneller wechseln, liegt es oft daran, dass die Chemie nicht stimmt (Ingo Metzmacher beim DSO, Lothar Zagrosek beim Konzerthausorechester, Carl St. Clair an der Komischen Oper) oder die Chefs letztlich nie richtig in Berlin angekommen sind (Kirsten Harms an der Deutschen Oper).

Jeder Chefdirigent muss es aushalten können, dass mindestens die Hälfte seines Orchesters ihn nicht mag.

Rhythm is it. Nicht nur in der Musik hat Sir Simon Rattle das rechte Gespür für Timing. Darum soll nach 16 Jahren der Schlussakkord seiner Berliner Ära erklingen.
Rhythm is it. Nicht nur in der Musik hat Sir Simon Rattle das rechte Gespür für Timing. Darum soll nach 16 Jahren der Schlussakkord seiner Berliner Ära erklingen.

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Bei den Berliner Philharmonikern hat man aus der überlangen, eher schmählich zu Ende gegangenen Ära Karajan gelernt. Mit dessen Nachfolger Claudio Abbado brach das Orchester, weil die Vorstellungen über eine sinnvolle Gestaltung von Proben doch zu weit auseinander- klafften. Doch kaum hatte der Maestro 1998 den Sommer 2002 als sein Abschiedsdatum bekannt gegenen, begann für ihn und das Orchester eine glückliche, künstlerisch fruchtbare Finalphase. Vielleicht nahmen Musiker auch deshalb Rattles Demissionsankündigung jetzt leichten Herzens zur Kenntnis.

Jeder Chefdirigent muss es aushalten können, dass mindestens die Hälfte seines Orchesters ihn nicht mag, findet Daniel Barenboim. Selbstverständlich gibt es auch bei den Philharmonikern eine Gruppe, die mit der Arbeit des Briten unzufrieden ist. Mit seinen experimentierend suchenden Interpretationen des deutschen romantischen Repertoires beispielsweise, deren Offenheit andere gerade schätzen. Manche wünschen sich den dichten, dunkel getönten Streicherklang zurück, wie er traditionell bei der Dresdner Staatskapelle oder den Wiener Philharmonikern konserviert wird. Andere wiederum genießen die atemberaubende stilistische Wendigkeit, die das Orchester in der Ära Rattle hinzugewonnen hat. Eins aber ist in diesem Kollektiv von 128 charakterstarken Selbstdenkern Konsens: Wenn es gemütlich zu werden droht, ist es an der Zeit, sich einen kräftigen Tritt zu verpassen.

Kunst lebt von Konfrontation. Davon, sich seinen Ängsten zu stellen. Dazu gehört im Fall der Philharmoniker, Wagners Tetralogie anzugehen, obwohl man weder das Theatergespür noch das Sitzfleisch eines Opernorchesters hat, Barockmusik mit Historische-Aufführungspraxis-Spezialisten auf modernen Instrumenten zu erarbeiten, oder auch Kompositionsaufträge zu vergeben, obwohl das einem oft schwer spielbare Partituren beschert – und nicht immer musikalische Perlen.

Noch vermag Simon Rattle die Philharmoniker herauszufordern, wie mit den wilden Schumann-Dutilleux-Lutoslawski-Mischungen wie in den kommenden Wochen. 2018 aber steht er kurz vor dem Rentenalter. „ Will you still need me, will you still feed me, when I’m 64?“, hat er sich mit den Beatles gefragt. Und beschlossen, die Antwort lieber nicht abzuwarten. Sondern den Weg in die Selbstständigkeit zu gehen. Seit seinem 25. Lebensjahr hat er Chefpositionen inne, in Birmingham und Berlin, bei denen viel Kraft und Zeit für Organisatorisches und Mitarbeitermotivation draufgeht.

Einem Ex-Berliner stehen alle Türen offen. Vielleicht macht Rattle ab 2018 wieder mehr Oper. Vielleicht intensiviert er die Zusammenarbeit mit seinen alten Freunden vom Orchestra of the Age of Enlightenment, dem Londoner Äquivalent der hiesigen Akademie für Alte Musik. Vielleicht gründet er – wie Claudio Abbado in Luzern – gar ein neues Festivalorchester, in dem seine engsten künstlerischen Freunde zusammenkommen?

Bewerbungsgespräche in der Philharmonie

Rhythm is it. Nicht nur in der Musik hat Sir Simon Rattle das rechte Gespür für Timing. Darum soll nach 16 Jahren der Schlussakkord seiner Berliner Ära erklingen.
Rhythm is it. Nicht nur in der Musik hat Sir Simon Rattle das rechte Gespür für Timing. Darum soll nach 16 Jahren der Schlussakkord seiner Berliner Ära erklingen.

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In der Philharmonie laufen derweil die Bewerbungsgespräche. Kaum machte die Nachricht die Runde, hagelte es Vorschläge von allen Seiten. Simone Young, Kent Nagano oder Paavo Järvi werden da beispielsweise genannt. Toller Gedanke, eine Frau an der Spitze. Nach ihren viel- versprechenden Berliner Assistenzjahren bei Barenboim agierte Simone Young als Hamburger Opernchefin zuletzt allerdings eher glücklos. Im beruflichen Tief befindet sich derzeit auch Kent Nagano. Beim Deutschen Symphonie-Orchester geradezu kultisch verehrt, verabschiedete sich der Maestro früh aus Berlin, fiel die Karriereleiter hinauf an die Bayerische Staatsoper – und stürzte dort in der Publikumsgunst bald ab. Gerade hat er ein Angebot als erster Gastdirigent in Göteborg angenommen. Paavo Järvi wiederum beeindruckte zwar nachhaltig mit jenem vitalen Beethoven-Zyklus, den er zusammen mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen in alle Welt trug, ist aber gleichzeitig die Inkarnation des vom Ehrgeiz gehetzten Vielflieger-Maestros, der mittlerweile vier Orchesterchefposten gleichzeitig besetzt.

Viel bedächtiger, reflektierter wirkt da Riccardo Chailly. Seine Laufbahn startete glanzvoll in Berlin, beim DSO, lange hat er das Amsterdamer Concertgebouworkest geleitet, seit 2005 ist er Gewandhauskapellmeister in Leipzig. Dass er zwei Jahre älter als Rattle ist, sollte kein Hindernis sein. Schließlich können Dirigenten bis weit in ihre Achtziger hinein äußerst aktiv wirken, wie Masur, Harnoncourt, Boulez und Co. beweisen. Doch würden sich die Philharmoniker schon wieder für einen eher feingeistigen als feurigen Italiener entscheiden?

Sollte denn vor allem Leidenschaft gefragt sein, stehen zwei Shootingstars der Branche ganz vorn auf der Kandidatenliste. Und beide sind, welch ein Zufall, in Kürze Gäste des Orchesters. Gustavo Dudamel ab 31. Januar, Andris Nelsons Anfang März. Der attraktive, chronisch gut gelaunte Dudamel mit seiner Aus-den- Slums-in-den-Konzertsaal-Geschichte ist perfekt medienkompatibel, bis hin zur Yellow Press. Man mag dem Hype um den mittlerweile 31-Jährigen kritisch gegenüberstehen, aber in den letzten Jahren ist Dudamel tatsächlich mit seinen Aufgaben gewachsen, seine Interpretationen haben enorm an Tiefe gewonnen.

Deutlich weniger fotogen wirkt Andris Nelsons vor allem in dem schlabbrigen Kittelschürzen-Outfit, das er bei der Pultarbeit trägt. Was den Grad der Begabung betrifft, die schlagtechnische Souveränität wie auch die energetische Kraft, die er im Klangkollektiv entfachen kann, agiert der Mittdreißiger aus Lettland aber mindestens auf Augenhöhe mit Dudamel. Wenn es darum geht, zum gedanklichen Kern einer Partitur vorzudringen, gelingen Nelsons wahre Tiefenbohrungen.

Von Daniel Barenboim – bei Rattles Wahl 2002 sein schärfster Konkurrent – redet jetzt niemand mehr. Zu eng sind mittlerweile dessen Bindungen an die Staatskapelle. Stattdessen ist nun Christian Thielemann Favoriten aller, die sich mehr Repertoire-Fokussierung und ästhetische Homogenität wünschen. Ein Berliner, ein Mann in den besten Jahren, ein Herzblutinterpret. Und ein schwieriger Charakter. Wo immer er Chef war, an der Deutschen Oper, bei den Münchner Philharmonikern, gab es Konflikte. Wagner und Bruckner, Brahms und Beethoven aber dirigiert er wie kaum ein anderer. Thielemanns Schultern sind breit. Vielleicht führt an ihm kein Weg vorbei.

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