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Die Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle. Die Philharmoniker wählen am Montag einen neuen Chefdirigenten.

© dpa

Berliner Philharmoniker: Wer wird heute neuer Chefdirigent?

Heute wählen die Berliner Philharmoniker den Nachfolger von Sir Simon Rattle. Wohin wird das Pendel ausschlagen? Zurück zum altdeutschen Klang? Wenn den Philharmonikern der Ruf als innovativstes Orchester lieb ist, sollten sie auf Risiko spielen. Ein Kommentar.

Wenn die Berliner Philharmoniker heute einen Nachfolger für Sir Simon Rattle wählen, dann entscheiden sie nicht nur über ihren Chefdirigenten, sondern über ihre eigene Zukunft. Erst werden sie definieren, wo sie in 20 Jahren stehen wollen, medial, stilistisch und ästhetisch, dann werden sie klären, mit welchem Maestro sich dieses Ziel erreichen lässt. Kein Politiker wird ihnen dabei reinreden. Selbst der Intendant muss draußen warten, bis der Sieger im Rennen um den begehrtesten Posten der Klassikwelt feststeht. Eine einmalige Autonomie, die aber auch große Verantwortung bedeutet. Hinterher gibt es niemanden, bei dem sich die Musiker beschweren könnten, falls es mit dem Auserwählten nicht klappt.

Früher waren die Fronten klar. Hier der Pultgott, der sagt, wo’s langgeht, dort die Instrumentalisten, die ihm gehorsam folgen. Heute soll die Orchesterarbeit als Teamwork funktionieren. Kollegial, auf Augenhöhe, eine Demokratie mit flachen Hierarchien – passend zur Firmenphilosophie des 21. Jahrhunderts. Die Neugier auf die Wahl der Philharmoniker nährt sich auch ein wenig aus der Diskussion über zeitgemäße Modelle der Arbeit. Die tüchtigen Deutschen? Die kollegialen Deutschen – auch dieses Bild können die Philharmoniker der Welt vermitteln.

Höchst selbstbewusste Individualisten

Hinzu kommt: Sie sind höchst selbstbewusste Individualisten, bei denen jeder Maestro für seine künstlerischen Ideen mit Argumenten werben muss. Ein Könner des Kernrepertoires muss er ohnehin sein, einer, der den tiefgründigsten Bach, Beethoven und Brahms dirigieren kann, aber am nächsten Tag mit einer Uraufführung überrascht. Als „Gesicht des Orchesters“ wünscht man ihn sich modern, charmant, polyglott, jederzeit zum Smalltalk mit Politikern in der Lage, fotogen wegen der Digital Concert Hall, kinderkompatibel wegen der Education-Programme, offen für andere Aufführungsformate vom Lunchkonzert bis zur Late Night Lounge. Kurz: Der künstlerische Leiter muss den ganzen Rechtfertigungsdruck schultern, der heutzutage auf der vermeintlich so elitären Klassik lastet.

Gibt es so einen Tausendsassa der tollen Töne überhaupt? Klar, nur hat sich Simon Rattle entschieden, Berlin im Sommer 2018 zu verlassen, um künftig in seiner Heimat Gutes zu tun – ein patriotischer Impetus. Von den Kandidaten, die auf der Shortlist der 124 philharmonischen Wahlmänner und -frauen stehen, bietet keiner eine ähnliche Vielfalt. Andris Nelsons punktet mit Jugend, Daniel Barenboim mit Erfahrung, Christian Thielemann ist ein Spezialist im deutschen Fach, Riccardo Chailly ein Grenzüberschreiter.

Schaut man zurück in der philharmonischen Geschichte, lässt sich eine Pendelbewegung ausmachen: Hans von Bülow, der erste Chef, war ein strenger Orchestererzieher, Arthur Nikisch ein sinnenfroher Romantiker, ihm folgten der Philosoph Furtwängler und der Schönklang-Magier und Technikfreak Karajan, der den international gefeierten Markensound des Ensembles kreiierte. Claudio Abbado forderte eine mitdenkende Hörhaltung, Rattle sorgte in jeder nur erdenklichen Richtung für Horizonterweiterungen.

Wohin soll das Pendel als Nächstes ausschlagen? Richtung Wertkonservatismus, also zurück zum „altdeutschen“ Klang? Wenn den Philharmonikern der Ruf als innovativstes Orchester des 21. Jahrhunderts lieb ist, sollten sie auf Risiko spielen und einen jungen Maestro wählen. Um mit ihm gemeinsam zu wachsen, der Zukunft entgegen.

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