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Erfahrung zählt. Warum nicht für einige Jahre einen älteren Maestro wählen und weiter den Markt der Jüngeren beobachten? Warum nicht Daniel Barenboim?

© T. Bartilla/Staatsoper

Berliner Philharmoniker: Wer wird Nachfolger von Simon Rattle?

Warum die Berliner Philharmoniker Mariss Jansons zum Nachfolger von Simon Rattle wählen sollten – oder Staatsopern-Chef Daniel Barenboim. Plädoyer für einen Interims-Kandidaten.

Im Frühjahr soll weißer Rauch aufsteigen. Wenn die Berliner Philharmoniker darüber abstimmen, wer 2018 Nachfolger von Simon Rattle wird, dann kommt das durchaus einer Papstwahl gleich. Denn einen attraktiveren Posten gibt es nicht in der Musikwelt. Die Wiener Philharmoniker arbeiten traditionell ohne Chefdirigent, bei amerikanischen Orchestern liegt die Last der Sponsorenpflege schwer auf den Schultern der Musikdirektoren, das Amsterdamer Concertgebouworkest wird derzeit von Geldsorgen geplagt.

In Berlin herrschen dagegen paradiesische Zustände. Die Finanzierung steht, die künstlerische Autonomie ist mit der Konstruktion der Philharmoniker-Stiftung gewährleistet – und vor allem denkt das Orchester ständig selber über seine Zukunft nach, will aus eigenem Antrieb immer besser werden, innovativer handeln als die Konkurrenz. Das viel beachtete Education-Programm hat Simon Rattle aus Großbritannien mitgebracht, als er 2002 Chef in Berlin wurde. Aber die Digital Concert Hall, also das Streaming von Philharmoniker-Auftritten im Internet, war eine Eigeninitiative des Orchesters, ebenso wie jüngst die Gründung eines eigenen Plattenlabels oder die Übertragung von Konzerten in Kinos.

Oder warum nicht Maris Janssons? Wie Barenboim muss auch er sich nichts mehr beweisen.
Oder warum nicht Maris Janssons? Wie Barenboim muss auch er sich nichts mehr beweisen.

© T. Linke/Sony

Im Januar 2013 erklärte Simon Rattle, dass er die Philharmoniker nach 16 gemeinsamen Jahren verlassen wird – weil eine Beziehung von Dirigent und Orchester keine Ehe ist, sondern eine Lebensabschnittspartnerschaft. Er macht den Weg frei für einen neuen Liebhaber. Mit fünf Jahren Vorlaufzeit. Das mag Außenstehenden voreilig erscheinen, ist im internationalen Klassikbusiness aber eine angemessene Zeit. Die Terminkalender begehrter Interpreten sind lange im Voraus gefüllt. Soll der neue Chef von Anfang an voll einsatzfähig sein, muss er im Frühjahr 2015 von seinem Glück erfahren.

Für die Rattle-Nachfolge kursieren drei Namen: Gustavo Dudamel, Andris Nelsons und Christian Thielemann

Die Philharmoniker werden sich die Entscheidung nicht leicht machen. Andere Orchester schielen auf berühmte Namen, wenn es um die Besetzung des Chefpostens geht. In Berlin aber ist das Ensemble selber so bedeutend, dass der Bekanntheitsgrad des Wunschkandidaten fast schon eine untergeordnete Rolle spielt. Als basisdemokratisch verfasstes Kollektiv werden die 128 Orchestermitglieder vor allem darum streiten, wohin die Reise gehen soll und wo sie in zwanzig Jahren stehen wollen. Erst wenn die langfristige Perspektive definiert ist, wird es um die Person gehen, mit der sich diese Ziele umsetzen lassen.

Dennoch raunt man sich natürlich bereits seit geraumer Zeit die Namen dreier Maestri zu, die angeblich gute Chancen haben: Es sind Gustavo Dudamel, der 33 Jahre junge Feuerkopf aus Venezuela, sowie der 36-jährige Lette Andris Nelsons, ebenfalls ein Frühreifer. Und Christian Thielemann, der gebürtige Berliner mit großer Bayreuth-Erfahrung.

Hört man allerdings ins Orchester hinein, wird schnell klar: Keiner der Kandidaten hat derzeit eine reelle Chance, die Mehrheit der Stimmen auf sich zu vereinen. Dudamel, der zu Beginn seiner Karriere vor allem Spaß haben wollte, ist zwar deutlich souveräner geworden; ob er aber genug Potenzial besitzt, wegweisende Neuinterpretationen des sinfonischen Kernrepertoires mit den Philharmonikern zu erarbeiten? Andris Nelsons spielt intellektuell in einer anderen Liga, doch hat er sich in jüngster Zeit übernommen und mochte bei zu vielen verlockenden Angeboten nicht Nein sagen, was ihm oft die Zeit raubte, sich tief in die Partituren hineinzuversenken.

Christian Thielemann beim Antrittskonzert mit der Sächsischen Staatskapelle 2012.
Christian Thielemann beim Antrittskonzert mit der Sächsischen Staatskapelle 2012.

© dpa

Christian Thielemann wird besonders von den Streichern der Philharmoniker geliebt, seine Art, das spätromantische Repertoire zu zelebrieren steht im spannenden Kontrast zu Simon Rattles maximaler Neugier auf alle Epochen und Ästhetiken. Aber selbst Thielemann-Fans befürchten, dass es menschlich nicht funktionieren würde. Schon seinen ersten wichtigen Job als Nürnberger Generalmusikdirektor warf er im Streit hin, ebenso verhielt es sich an der Deutschen Oper Berlin und bei den Münchner Philharmonikern. Auch wenn er es abstreitet – dass Serge Dorny, der designierte Intendant der Dresdner Semperoper, gefeuert wurde, bevor er sein Amt antreten konnte, dürfte irgendwie auch mit dem Führungsstil Thielemanns bei der Sächsischen Staatskapelle zu tun gehabt haben.

Zweimal war Daniel Barenboim schon dicht dran

Erfahrung zählt. Warum nicht für einige Jahre einen älteren Maestro wählen und weiter den Markt der Jüngeren beobachten? Warum nicht Daniel Barenboim?
Erfahrung zählt. Warum nicht für einige Jahre einen älteren Maestro wählen und weiter den Markt der Jüngeren beobachten? Warum nicht Daniel Barenboim?

© T. Bartilla/Staatsoper

Es liegt also im Bereich des Möglichen, dass die Philharmoniker es mit Otto Reutter halten werden: „Schau’n Sie nicht so wählerisch/Nur nach dem, der jung und frisch./Nehm’n Se ’n Alten, nehm’n Se ’n Alten!/So ’nen alten, wohlbestallten“, sang der Berliner Kleinkunstkönig der Zwischenkriegszeit 1926.

Eine Interimslösung wäre der eleganteste Ausweg aus dem Dilemma. Warum nicht einen allseits hochgeschätzten, erfahrenen Maestro wählen, von dessen Können die Musiker einige Jahre profitieren, während sie weiter den Markt beobachten? Warum nicht Mariss Jansons fragen – oder Daniel Barenboim? Zweimal schon war Barenboim ganz dicht dran, musste sich dann aber geschlagen geben, erst wegen Claudio Abbado, dann wegen Rattle. Der tiefen Liebe, die zwischen ihm und dem Orchester besteht, hat das aber keinen Abbruch getan.

Zudem ist Barenboim besser denn je – so verrückt das angesichts einer seit Jahrzehnten andauernden Weltkarriere klingen mag. 26 Jahre ist er nun schon künstlerischer Leiter der Staatsoper, er hat das Haus an die internationale Spitze geführt, finanziell abgesichert und die Generalsanierung durchgesetzt. Da dürfte es ihm nun wirklich niemand übel nehmen, wenn er einem Ruf der Philharmoniker folgte, dann 75-jährig, um sein Lebenswerk im Scharounbau zu krönen.

Maestri der Weltklasse: Weder Mariss Jansons noch Daniele Barenboim müssen sich noch etwas beweisen

Auch Mariss Jansons, zwei Monate jünger als Barenboim, gehört fest zur philharmonischen Familie. Seinen ersten Auftritt mit dem Orchester hatte er 1974, als Zögling Karajans. Geschätzt wird seine intensive Probenarbeit, bei der er ebenso durch Höflichkeit wie Konsequenz besticht. Jansons Repertoire ist groß. Von ihm will man tatsächlich jedes Stück gerne hören, weil er als Interpret absolut integer ist, mit höchster Ehrlichkeit zu Werke geht. Leider hat er ein schwaches Herz, wie sein Vater, der ebenfalls Dirigent war. Arvid Jansons starb auf dem Podium, Mariss Jansons überlebte 1996 einen Infarkt. Seitdem wacht seine Frau streng darüber, dass er maximal 26 Wochen pro Jahr arbeitet.

Aus gesundheitlichen Gründen hat er gerade seinen Posten beim Concertgebouw in Amsterdam aufgegeben, sein Vertrag mit dem Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks endet im Sommer 2018. Auch für Mariss Jansons würde mit der Berufung nach Berlin ein Lebenstraum in Erfüllung gehen.

Kirill Petrenko, Tugan Sokhiev oder der exzentrische Grieche Teodor Currenztis - Kandidaten für die Zukunft?

„Nehm’n Se ’n Alten, nehm’n Se ’n Alten!/Kommt dann mal ein Junger her,/gönnt er dem sogar den Braten/und begnügt sich am Dessert.“ Weder Jansons noch Barenboim müssen sich selber noch etwas beweisen. Sicher würden sie ihre Herzensstücke mit den Philharmonikern erarbeiten wollen. Aber es besteht die berechtigte Hoffnung, dass sie nicht alles an sich reißen, dass sie andere Götter neben sich gelten lassen. Das wiederum würde es den Philharmonikern ermöglichen, die Zusammenarbeit mit Thielemann, Dudamel und Nelsons weiter zu pflegen, die Entwicklung hochinteressanter Maestri wie Kirill Petrenko, Tugan Sokhiev, Andres Orozco-Estrada oder Pablo Heras-Casado intensiv zu verfolgen und Kontakte zu spannenden Nachwuchsdirigenten zu knüpfen. Etwa zu dem blutjungen neuen Chef des Tonhalle Orchesters Zürich, Lionel Bringuier, dem Briten Robin Ticciati oder auch dem exzentrischen Griechen Teodor Currentzis.

Manchem Philharmoniker wird der Gedanke an eine Zwischenlösung wenig behagen. Weil es aussehen könnte, als wüssten die Musiker nicht, wo sie hinwollen. Andererseits: Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat kein anderes Spitzenorchester so intensiv an sich gearbeitet wie die Berliner Philharmoniker. Warum sollten sie nicht auch mal innehalten – nicht, um sich auf dem Erreichten auszuruhen, sondern um von der Lebenserfahrung eines Barenboim, eines Jansons zu profitieren und sich neu in scheinbar vertraute Partituren zu versenken?

Die Klassikszene ist enorm lebendig. Das Bedürfnis der Intendanten, ständig neue Gesichter zu präsentieren, eröffnet so manchem Talent früh die Chance, sich zu bewähren. Und wer weiß, vielleicht können die vielen an den Hochschulen ausgebildeten Dirigentinnen bald endlich die Macht der Männer am Pult brechen, vielleicht katapultiert sich während des Barenboim/Jansons-Interims eine Maestra in den Kreis der philharmonischen Kandidaten. Und für die anstehende Wahl von Rattles Nachfolger könnte sich auch diese Chansonweisheit Otto Reutters als wahr erweisen: „Nehm’n Se ’n Alten, nehm’n Se ’n Alten,/Hab’n Se ’n etwas aufgefrischt/Ist er besser oft wie’n Junger –/Und stets besser als wie nischt!“

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