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Menschen auf der Flucht über die Balkanroute: Ein Ereignis, das sich auch in der Lyrik niederschlägt.

© dpa

Berliner Poesiefestival: Großmutters sieben Pässe

Das Berliner Poesiefestival diskutiert über den Balkan als Kulturraum und die Rolle der Dichtung in einer Ära der Konflikte.

Vor über 20 Jahren war der Balkan eine sich auflösende Region, überzogen von Hass, Krieg und Gewalt, eine gebeutelte Landschaft, aus der die Menschen flohen. Viele sind inzwischen zurückgekehrt und beobachten nun andere Flüchtende unter ihren Balkonen mit Argwohn und Angst, denn selbst fühlen sie sich als Opfer der großen Politik. Wie nehmen Dichter die fragmentierte Region wahr, auf der der Nationalismus die einzige Bindekraft zu sein scheint und die gerne als „Hinterhof Europas“ bezeichnet wird? Wie erleben sie ihre Herkunftsländer, die in den Nachrichten nur noch als „Balkanroute“ firmiert, als Transitzone, die nach Belieben geöffnet oder geschlossen werden kann?

Mit dem eingängigen Bild des „Balkan Balcony“ näherten sich sieben Autorinnen und Autoren auf dem von der Berliner Literaturwerkstatt ausgerichteten Poesiefestival der neuen Konfliktzone. Den Balkan seiner Kindheit gebe es nicht mehr, leitete Kurator Nikola Madzirov ein, sondern nur noch einen Raum, durch den man fliehe. Gerade von den Balkonen aus, von den Beobachtungsposten, sei das „Haus des Vertrauens“ zu errichten.

Für die in Deutschland lebende Lindita Arapi ist der Balkan aber nicht nur ein realer Ort, sondern eine Fiktion. Gerade in ihrer lange isolierten Heimat Albanien verbindet sich mit ihm die Vision des Anschlusses an die Welt. Insofern sei der Balkan, bei aller Last und Schimpflichkeit, auch ein farbiger Mythos. Die Stärke des Balkans liege, so Damir Šodan, in seiner Vielfalt, aus der eine „absurde Einheit“ erstehe. Seine kroatische Großmutter, erzählt er, habe im Laufe ihres Lebens sieben verschiedene Pässe besessen.

Die EU ist zur Obsession für die Balkanländer geworden

Die in Großbritannien lebende Bulgarin Kapka Kassabova sieht ein Problem der Balkanländer darin, dass sie ihr osmanisches Erbe verweigerten und immer nur nach Westen schielten. „Der Beitritt zur EU ist zu einer Obsession geworden“, erklärt sie, „der Beweis, endlich als Volleuropäer akzeptiert zu werden“.

Dabei, so könnte man mit Carl Schmitt formulieren, ist der Balkan für die EU sozusagen die eigene Frage in Gestalt, „ihr Spiegel“, wie die in Serbien lebende Ana Ristovik behauptet. „Europa will nicht wie der Balkan werden, ist aber so.“ Und Arapi sekundierte, dass der Versuch, dem Balkan den Nationalismus auszutreiben, nun umgeschlagen sei und in Europa wilde Blüten treibe.

Aber wie immer man den Balkan auch wahrnimmt, ob als Ort, an dem „schreckliche Dinge passieren“ (Ristovik), als Sehnsuchtsort oder als reines Konstrukt, wie der Slowene Aleš Šteger glaubt, er ist ein Schauplatz realer Ereignisse, der sich auch in der Dichtung niederschlägt. „Mutter unser/Die du bist in Körpern/Zerstörung sei dein Name/Komm zumindest zu mir/ In deiner Verbannung“, schreibt Šteger, der in den Flüchtlingscamps auf dem Balkan unterwegs war.

Empathie: Motor der Dichtung

Bei Kapka Kassabova schlägt sich die Erfahrung der Flucht in ihrem „Immigranten-Zyklus“ nieder. Ihr Gedicht „In Sicherheit im Pazifik“ beginnt mit den Zeilen: „Am Ende eines langen Tages/Schließt mein Vater die Türen ab/Verriegelt die Fenster/Die Fensterläden/Er sperrt die Stimme des Winds aus/Die Frage von gestern.“

Und wie sich jemand fühlt, der es geschafft hat, belegt Ana Ristovik in „Berlin, Himmel“: „Du bist ein Dichter, der sich fühlt/ wie der russische Adel, einst/in Baden Baden/Osten im Westen, ein Makel auf der Konkavlinse.“

Was im realen Leben aufgrund von Angst oder fehlender struktureller Möglichkeiten häufig unter die Räder kommt, ist Motor der Dichtung: Empathie. Das war auch das Thema am Vortag. Unter dem Motto „Poetry and Conflict“ versuchten Lyrikerinnen und Lyriker wieder einmal, die Rolle der Poesie in einer Ära zunehmender Konflikte und Kriege auszuloten. „Radikal zuhören“ hat sich die US-amerikanische Menschenrechtsaktivistin Carolyn Forché auferlegt. „Poetry of witness“ nennt sie diese äußere und innere Augenzeugenschaft, die sie im Krieg in El Salvador entwickelt hat. Geschichten aus dem Krieg zu erzählen, die sonst keiner erzählt, hat sich auch Brian Turner zum Auftrag gemacht. Denn bis die Stimmen der Verwundeten ankommen und Erfahrenes verdichtet werden kann, dauert es Jahre. Eine Wirkungsmessung dafür gibt es – glücklicherweise – nicht.

Das unter dem Motto „Kein schöner Land“ laufende Festival, das, wie Werkstattchef Thomas Wohlfahrt betont, gerade nicht auf das deutsche Volkslied anspielt, sondern auf die europäische Flüchtlingspolitik, wird am Freitag unter anderem mit einem Gespräch und einer Lesung über litauische Poesie fortgesetzt und am Samstag mit dem traditionellen Lyrikmarkt beendet.

noch bis Sa 11. Juni, weitere Infos: www.literaturwerkstatt.org

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