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Kultur: Berliner Politikerkarrieren: Die Kerne lügen nicht

In unserer Reihe "Das alte Gedicht im Kontext des saisonalen Speiseplanes" wollen wir heute zu Beginn kurz bei einem Text jüngeren Datums verweilen. "Das war in Buckow zur Süßkirschenzeit", schrieb der jetzige Chefkulturkorrespondent der "Welt" vor Jahrzehnten, als er hauptamtlich Protestlieder verfertigte.

In unserer Reihe "Das alte Gedicht im Kontext des saisonalen Speiseplanes" wollen wir heute zu Beginn kurz bei einem Text jüngeren Datums verweilen. "Das war in Buckow zur Süßkirschenzeit", schrieb der jetzige Chefkulturkorrespondent der "Welt" vor Jahrzehnten, als er hauptamtlich Protestlieder verfertigte. "Die Bäume stehn an der Chaussee. / Das war in Buckow zur Süßkirschenzeit / die Bäume gehörn der LPG"; nach der zweiten Strophe wird daraus: "die Mädchen gehörn der LPG. / Die hat an jede ein Zettel gemacht / das Volkseigentum wird streng bewacht / In der Nacht, in der Nacht, und besonders in der Nacht." Was will Wolf Biermann den Zeitgenossen damit sagen? LPG hieß zur entschwundenen Zonenzeit jene Landwirtschaftliche Produktionsgemeinschaft, in der das sozialistische Volk und sein Nutztier, während die Mauer stand und BSE noch nicht erfunden war, friedlich beieinander wohnten. Dass es selbst in solch einer Großfamilie Verteilungsknatsch gibt, skizziert die subversive Ballade zwischen den Zeilen. Uns Heutige indes erinnert sie vor allem daran, dass die Kirschensaison anfängt und Kerne bei Tisch nicht in die Vase gespuckt, sondern auf Tellerchen gesammelt und schließlich (damit kommen wir zum Klassiker der heutigen Betrachtung) abgezählt werden. Jeder Teller eine Berufsberatung; jeder Kern eine Berufung: "Missionar und Zirkusneger / Rechtsanwalt und Schornsteinfeger / Schneider, Schuster, Bäcker, Bauer / Redakteur und Fleischbeschauer / Pastor, Doktor, Handelsmann / Küster, Graf und Leiermann".

Hier, liebe Gedicht-Freunde, haben wir ein Stück Poesie aus jener guten alten Zeit, als man weder Ossi- noch Wessi-, sondern nur die bürgerliche Klassengesellschaft kante, in der arme wie reiche Kinder sich beim Dessert über ihren Werdegang Gedanken machten. Der moderne Sozialstaat überträgt solche Lebensvorbereitung an Schule und Arbeitsamt; aktuell indes erscheint der alte Abzählreim auf dem Hintergrund ungeklärter Berliner Politikerkarrieren. Ex-Regierender Diepgen, die Rückkehr ins nglied scheuend, darf sich die passende Kernezahl zur Wiedereingliederung in die Rechtsanwalts-Arbeitswelt auszählen. Sein Jura-Kollege, Kandidat Gysi, dagegen kann als brillanter Redner und missionarisches Showtalent ("Roter Neger der Nation") unter dolleren Optionen wählen - falls er die absolute Mehrheit verfehlt. Den Raumausstatter-Beruf des OB-Aspiranten Steffel wiederum bietet die Zukunftspalette gar nicht erst an: Kern-Astrologen erkennen hier das Omen eines CDU-Sieges, in dessen Folge der Jungunternehmer endgültig zum Staatsmann mutiert, auf prosaischen Broterwerb fortan verzichtend. Oder trifft er unter dem Export-Import-Rubrum Handelsmann auf den Paten Lando, seinen Vorgänger im Fraktionsvorsitz? Eine maßgeschneiderte Stellen-Offerte freilich verweigert das Versorakel auch Steffels Rivalen Wowereit, prophezeit dem früh berufenen Profipolitiker aber möglicherweise das Schicksal eines Bäckers ohne Mehl, also eines Landesherrn ohne Knete: Manche der gereimten Berufsbilder müssen (typisch Lyrik!) als Metaphern gedeutet werden. Womit selbst der Ex-Senator und potenzielle Opernintendant Stölzl seine Chance erhält: "Wunderlicher Alter, willst du mit mir gehn / willst zu meinen Liedern / deine Leier drehn"? Nein, das ist kein Biermann-Zitat, sondern (auch mit Liederabenden lassen sich Spielpläne füllen!) aus der "Winterreise". Apropos: Märkisches Frischobst kommt, egal wie das Abzählen ausgeht, nach der Wahl erst mal keins auf den Tisch.

Im Winter geht es ans Eingemachte.

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