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Berliner Salonière Rahel Varnhagen: Ich bin von außen ganz verschüttet

„Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde“: Barbara Hahn plädiert für einen neuen Umgang mit dem Opus magnum der Berliner Salonière Rahel Varnhagen

Als „Naturerscheinung“ wurde Rahel Levin, spätere Robert (nach der Konfession), spätere Varnhagen (nach der Heirat) von den Männern ihrer Zeit gerühmt. Eine galante Art, der Autorin eines der umfassendsten Briefwerke ihrer Zeit bewusste Kreativität und Intellektualität abzusprechen. Von 1787 bis zu ihrem Tod 1833 hat Rahel Varnhagen mit um die 300 Korrespondenten Briefe gewechselt. Die kluge, skandalumwitterte Pauline Wiesel war ebenso darunter wie Wilhelm von Humboldt und der Diplomat Friedrich von Gentz, der in der Europa-Politik um 1800 eine wesentliche Rolle spielte. Sie selbst bezeichnete die Triebkraft ihres Schreibens mehrfach als „Wahrheitsliebe“. Mit dem Klischee sich naiv verströmender „weiblicher“ Autorschaft, die Rahel Varnhagen bis heute unterstellt wird, hat das nichts zu tun: Sich mit dem Anspruch „Wahrheit“ schreibend zu veräußern, setzt nicht nur unablässige Selbstbefragung und -disziplinierung voraus, sondern auch einen Willen zur Form. Der ist oftmals vom ersten Satz dieser Briefe an spürbar, stilistisch und gedanklich.

„Man kann auch essen ohne Zähne, starke Bouillons, Weinsuppen, Kompots u.s.w.“. So beginnt die 23-jährige Rahel Levin, talentiert zum absurden Aphorismus, 1793 ihren Brief an den schwedischen Diplomaten Karl Gustav von Brinckmann. Er hatte zuvor über Zahnweh geklagt. Ein solcher Anfang setzt den Ton für die kommenden Sätze: exakt auf den Briefpartner gezielt, sofort eine Situation aufrufend und den Adressaten unmittelbar ins Gespräch zwingend.

Viele Briefe sind auf diese Weise durchkomponiert und zeigen eine Schriftstellerin, die an den Formulierungen und der Dramaturgie gefeilt hat. Dazu gehörte zur experimentierfreudigen Zeit der Romantik auch, dem Schreiben im Dienste einer konstruierten Authentizität immer wieder die Leinen loszulassen. Ein anderer Anfang: „Der Mensch als Mensch ist selbst ein Werk der Kunst, und sein ganzes Wesen besteht darin, dass Bewusstsein und Nicht-Bewusstsein gehörig in ihm wechseln“. Auf ähnliche Weise wechseln in Rahel Varnhagens Briefen philosophische Gedanken und Reflexionen über Theater und Politik mit Alltäglichem, privaten Bemerkungen und Klatsch.

Immer aber steht das Ich im Zentrum – ein ungeheurer Akt der Selbstermächtigung. Schließlich war Rahel Varnhagen von Geburt an doppelte Außenseiterin: als lange unverheiratete Frau und als Jüdin. „Mir aber war das Leben angewiesen; und ich blieb im Keim, bis zu meinem Jahrhundert, und bin von außen ganz verschüttet, drum sag’ ich’s selbst“, schrieb sie am 26. Februar 1805 an ihren Jugendfreund David Veit. Dass sie unbescheiden das Wort für sich ergriff, stößt immer noch auf Irritation. Das lässt tief blicken, was die Geschlechterbilder unserer Zeit angeht.

Die Germanistin Barbara Hahn gehört zu den Wissenschaftlerinnen, die anders auf Rahel Varnhagen und ihr Werk schauen. Sie sieht die Denkerin und Theoretikerin und rückt sie auch mit dieser Edition in den Vordergrund. Damit ist die Forschung erneut eingeladen, anstelle einer weiteren biografischen nun eine politische und theoretische Lesart dieses einzigartigen Briefwerks zu entwickeln, das mehr entwirft als das Bild der intellektuell sprühenden Zeit zwischen den Revolutionen 1789 und 1848. Schließlich ist das „Buch des Andenkens“ keine Briefsammlung, sondern das Publikationsprojekt einer Autorin und ihres Herausgebers: Versammelt sind nur die Briefe Rahel Varnhagens, chronologisch geordnet und unterbrochen von aphoristischen und essayistischen Aufzeichnungen. Es handelt sich um den Versuch, von einem Punkt aus, nämlich der Stimme Rahel Varnhagens, ein Netzwerk von Korrespondenten sichtbar zu machen und eine schriftliche Form dafür zu finden. So lautet stark verkürzt die avancierteste Interpretation der Forschung.

Über zwanzig Jahre hat Hahn in den Spuren der komplizierten Überlieferungs- und Editionsgeschichte von „Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde“ gearbeitet. An der ersten Fassung, die Karl August Varnhagen kurz nach ihrem Tod veröffentlichte, hatte seine Frau noch mitgewirkt. Die zweite, erweiterte Fassung veröffentlichte er 1834 und arbeitete in den Folgejahren an einer weiteren Ergänzung. Diese collageartige Manuskriptvorlage liegt in den Kästen der „Sammlung Varnhagen“ in der Krakauer Biblioteka Jagiellonska.

Hahn entschied sich klugerweise, nicht auf das Phantasma einer „Urfassung“ aus Rahel Levins Hand zu setzen. Sie legte Karl August Varnhagens Manuskript zugrunde, entschied sich also, dieses Buch als Gemeinschaftsprojekt des Ehepaars ernst zu nehmen und auch die Editionsstandards des 19. Jahrhunderts nur behutsam der heutigen Zeit anzupassen. Es wird hier der Versuch lesbar, die Linien eines Publikations- und Denkprojekts nachzuzeichnen, das seiner Zeit voraus war. Vor allem aber verwandelt Hahn das „Buch des Andenkens“ durch ihre Perspektive in ein „Buch des Denkens für die Nachwelt“, wie sie ihr Nachwort überschreibt. Ein solches „Denken ohne Geländer“, das sich dafür interessiert, wie aus der heutigen Zeit ohne Ignoranz und Arroganz auf vergangenes Denken geantwortet werden kann und wie man es weiterdenken kann, steht offenbar in der deutschen akademischen Welt derzeit nicht hoch im Kurs. Oder ist es nicht beschämend, dass es amerikanische Universitäten waren, die Hahns langwierige Vorarbeiten für diese Edition wesentlich finanzierten?

Bedauerlich ist auch die Entscheidung von Wallstein Verlag, Wüstenrot Stiftung und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, dieser ansonsten so genauen, leserfreundlichen und bibliophil ausgestatteten Edition ein Vorwort von Brigitte Kronauer voranzustellen. Selten hat eine „Patin“ ihrem „Schützling“ einen solchen Bärendienst erwiesen.

Es ist irritierend, mit welcher Vehemenz Kronauer Rahel Varnhagen Originalität abspricht und sie in ihrer Charakterstudie als schulmädchenhaft, unverschämt und selbstgerecht gegenüber Männern wie Jean Paul und Clemens Brentano herabsetzt. Kronauers Haltung wird schon dadurch entlarvt, dass sie unbeirrt von „Rahel“ spricht, den männlichen Autoren aber ihre Nachnamen gönnt. Das Vorwort verrät außerdem einen anachronistischen Werk- und Kunstbegriff. Als Schriftstellerin lässt sie Rahel Varnhagen, die nie einen Roman schrieb, nicht gelten.

Denn Voraussetzung für „Dichtung“ sei das Einverständnis mit dem „Formdruck erzeugenden Ausgeschlossensein“ der dichtenden Person. Auf die „disziplinierte Wollust poetischer Produktion“ habe Rahel Varnhagen mangels Leidensfähigkeit und Formanstrengung verzichten müssen. Hier sieht Kronauer offenbar den eigentlichen Grund für die immer wieder laut werdende Unzufriedenheit, nicht etwa in der Benachteiligung als Frau und als Jüdin. Dringlich klingt die Forderung „Antworten Sie mir“ als Refrain durch die Briefe Rahel Varnhagens bis in unsere Zeit. Gemeint sind geistig ebenbürtige Reaktionen. Die Edition von Barbara Hahn ist eine.

Rahel Levin Varnhagen: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Hg. von Barbara Hahn. Mit einem Essay v. Brigitte Kronauer. Wallstein, Göttingen 2011.

6 Bände, 3310 S., 69 €.

Insa Wilke

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