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Kultur: Berliner Schaubühne: Personenkreis 2001 - Sasha Waltz und Thomas Ostermeier im Gespräch

Ein Jahr neue Schaubühne - wie hat das Publikum die radikalen Veränderungen aufgenommen?Waltz: Das Publikum hat sich stark verjüngt.

Ein Jahr neue Schaubühne - wie hat das Publikum die radikalen Veränderungen aufgenommen?

Waltz: Das Publikum hat sich stark verjüngt. Das ist ein Bruch. Aber wir sind glücklich mit der Mischung aus alten und neuen Zuschauern. Ich denke, die Verbindung von Tanz und Schauspiel erweist sich da als sehr attraktiv für die Zukunft.

Ostermeier: Wir sind in Berlin im Augenblick das Theater mit den höchsten Einnahmen: 3, 86 Millionen Mark im Jahr 2000, bei 484 Vorstellungen. Die Platzauslastung im ersten Jahr lag bei rund 80 Prozent, das entspricht mit etwas über 100 000 Besuchern den Zahlen der alten Schaubühne. Wir haben an 24 Orten 88 Gastspiel-Vorstellungen vor 30 000 Zuschauern gespielt. Aber das darf nicht das Kriterium für die Beurteilung unserer Theaterarbeit sein.

Die Zahlen sind sehr gut. Dennoch hat Direktor Jürgen Schitthelm von der Möglichkeit der Schließung gesprochen. Wie kann das sein, Sie haben doch erst mit dem Neuaufbau begonnen?

Ostermeier: Wir haben für das Haushaltsjahr 2001 einen Antrag bei der Stiftung Deutsche Klassenlotterie gestellt, und der wurde eingeschränkt bewilligt. Der frühere Kultursenator Peter Radunski versprach uns, für die gesamte Vertragsdauer von fünf Jahren die erforderliche Erhöhung unsere Etats um die Gründung eines neuen Tanz- und Schauspielensembles zu stemmen. Der aktuelle Senator hat dies weder bestätigt noch abgelehnt. Das Problem wurde erst einmal auf das Lotto abgewälzt.

Waltz: Und Lotto hat anstelle der dringend benötigten 3,1 Millionen Mark für 2001 nur 2,4 Millionen bewilligt. Dies ist ein bedrohliches Signal.

Ostermeier: Es stellt unser gesamtes Projekt in Frage.

Waltz: Die Situation ist absurd. Wir haben einen Repertoirebetrieb mit großer Aufführungsdichte entwickelt. Eigentlich müsste ich das Tanzensemble dringend aufstocken. Wir arbeiten an der Belastungsgrenze.

Geht es bei den 3,1 Millionen Mark um die Finanzierung des neuen Tanzensembles?

Waltz: Nein. Es geht um die Schaubühne insgesamt. Tanz und Schauspiel - das ist unser Konzept. Da kann man nichts herausrechnen.

Wie soll das aufgehen? Es fehlt ja faktisch Geld. Mindestens 700 000 Mark.

Ostermeier: Mit der Zusage des Lottobeirats kam ein Brief, indem wir aufgefordert wurden, für 2002 einen Finanzplan vorzulegen, der vorsieht, dass wir von da an ohne die 2,4 Millionen Mark auskommen. Ein Unding, ein Skandal!

Wollen Sie behaupten, dass die Lottostiftung sich anmaßt, der Schaubühne vorzuschreiben, wie sie künftig ihren Etat gestaltet?

Ostermeier: So steht es in diesem erpresserischen Brief. Wir bekommen das Geld für 2001 nur dann, wenn wir zusichern, dass wir im nächsten Jahr keinen Antrag mehr stellen. Lotto empfiehlt uns, Entlassungen vorzunehmen.

Dann kann man diese 2, 4 Millionen Mark vom Lotto im Grunde gar nicht annehmen?

Ostermeier: Christoph Stölzl sagt, er habe die Kuh vom Eis geholt. Davon kann überhaupt keine Rede sein.

Wie wirkt sich diese Kulturpolitik auf das Ensemble aus?

Waltz: Eigentlich geht es uns wie früher als freie Gruppe, nur auf anderem Niveau. Selbst als Schaubühne können wir unseren normalen Spielplan ohne nationale und internationale Partner nicht mehr realisieren.

Ostermeier: Für "Dantons Tod" werden bereits Gastspiele in Avignon und an den Münchner Kammerspielen verabredet.

Wie ist die Besetzung bei Ihrem Büchner?

Ostermeier: Kay Bartholomäus Schulze spielt Danton, Tilo Werner Robespierre. Mit dabei sind Werner Rehm und Hans Diehl vom "alten" Ensemble.

Der erste veritable Klassiker an der neuen Schaubühne...

Ostermeier: Kleists "Penthesilea" wird folgen. Wir haben nichts versprochen, was wir nicht gehalten haben. Es ärgert mich wahnsinnig, wenn ich lese, wir hätten unseren Auftrag eines zeitgenössischen Autorentheaters nicht erfüllt.

Wer sagt das?

Ostermeier: Der Tagesspiegel zum Beispiel. Wir könnten uns höchstens darüber unterhalten, dass wir einige deutsche Autoren noch nicht oder zu wenig beachtet haben. Theresia Walsers neues Stück ist bei uns in der Diskussion. Wir können auch über meinen schlechten Geschmack oder meine schlechte Regie reden, meinetwegen, aber ein Theater, das von Roland Schimmelpfennig und Marius von Mayenburg jeweils zwei Produktionen im Repertoire hat, das Uraufführungen von Falk Richter und David Gieselmann macht, das Stückaufträge vergeben hat an Gieselmann, Katharina Gericke und Andreas Laudert, an Alexej Schipenko, Werner Fritsch und Maxim Biller, hat den Vorwurf, es kümmere sich nicht um deutsche Dramatiker, nicht verdient.

Was muss denn ein Stück haben, damit es in den Zusammenhang der Schaubühne passt?

Ostermeier: Da gibt es eine Entwicklung. Wir haben mit Lars Noréns "Personenkreis 3.1" begonnen - das ist ein soziologischer Blick des Theaters auf Außenseiterfiguren der Gesellschaft, auf Rand- und Schieflagen. Ähnlich verhält es sich mit "Parasiten" von Mayenburg und Sarah Kanes "Crave". Die Traurigkeit und Ausweglosigkeit der Figuren von Jon Fosse lassen sich schon nicht soziologisch verorten. Nach den Erfahrungen der ersten Spielzeit suchen wir jetzt auch nach Stücken, die in einem anderen Milieu, in einer anderen Klasse spielen.

Sehen Sie nicht, dass es an großen Stücken fehlt, die einen gesellschaftlichen Fokus finden, wie früher die Texte von Botho Strauß, Heiner Müller, Peter Weiss?

Ostermeier: Ich glaube, dass "Supermarkt" von Biljana Srbljanovic genau so ein Stück ist, über das Ankommen im Westen, zehn Jahre nach der Wende. Aber wenn Sie hier die großen alten Namen aufzählen, frage ich mich, ob diese Dramatiker von Anfang an das waren, als was sie heute gelten.

Waltz: Das ist doch Entwicklungsarbeit. Wir haben hier ein Laboratorium errichtet, das ein Fundament darstellt für eine zukünftige Künstlergeneration. Man muss sich im Theater die Zeit nehmen, einen Gegenpol zu unserer beschleunigten Welt der Oberflächenreize herzustellen. Da Impulse von außen jedoch lebenswichtig sind, laden wir Choreografen und Regisseure ein. Luk Perceval wird mit Tänzern und Schauspielern arbeiten, Emio Greco beginnt mit einem Projekt, mit William Forsythe und dem Ballett Frankfurt ist ein längerfristiger Austausch verabredet, ähnlich wie mit Alain Platel.

Wie steht es um das Ensemble? Ist es nicht zu unerfahren, zu gleichförmig?

Ostermeier: Es gibt nicht viele Ensembles im deutschsprachigen Raum, die in der Lage wären, ein Stück wie "Personenkreis 3.1" zu tragen. Hat die alte Schaubühne 1970 auch schon mit den großen, fertigen Stars angefangen?

Peter Steins Ensemble mit Edith Clever und Bruno Ganz hatte einen Vorlauf in Zürich und Bremen, ehe man nach Berlin kam. Denen eilte damals ein gewaltiger Ruf voraus. Aber selbst wenn die Vergleiche schief sind: Der Schaubühne von heute hängt diese große Tradition am Hals.

Ostermeier: Natürlich. Aber habe ich Andrea Breth aus der Stadt gejagt? Habe ich Luc Bondy vertrieben? Im gesamten Feuilleton ist das große Geheule und Gejammer, dass die Stars alle in Wien sitzen, die früher mal in Berlin waren. Wer hat Peter Zadek aus Berlin vertrieben? Das war die kunstfeindliche Stimmung hier, die Gosse, die rotzige Art, die Zeitungen. Auch die Schauspieler sind ohne unser Zutun gegangen.

Kann man nicht aufeinander zugehen?

Ostermeier: Natürlich müssen wir daran arbeiten. Wir engagieren neue Leute. Anne Tismer, Justine del Corte und Bruno Cathomas werden an die Schaubühne kommen, Gerd Wameling als Gast und viele andere. Und einige werden gehen.

Das Schauspielerproblem gibt es in ganz Berlin, nicht nur an der Schaubühne.

Ostermeier: Das Wiener Burgtheater hat erst einmal einen riesigen Etat. Da wird das Dreifache unserer Gehälter gezahlt. Ich glaube, das Berliner Theaterpublikum lehnt "Star-Theater" tendenziell eher ab. Wie kann es plötzlich passieren, dass das Feuilleton nach einem Star-Theater ruft? Jeder weiß doch, wohin das führt - zu überteuerten Gagen, entleerten Inhalten und einer Zweiklassengesellschaft auf der Bühne.

Es geht weniger um Stars als um Protagonisten, Individualität und Charakter.

Ostermeier: Die gibts in der Stadt und in der Schaubühne. Nur für das kulinarische, repräsentative Theater, das Sie sich zur Zeit wünschen, sind eigentlich andere Theater in der Stadt zuständig.

Waltz: In unserem gemeinsamen Neuanfang liegt doch viel mehr Kraft. Man muss erst ein Gefühl für sich bekommen, für den anderen. Erst dann kann man den nächsten Schritt gehen und sich weiter öffnen.

Ein Jahr neue Schaubühne - wie hat das Publik

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