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Klassik mit Wow-Effekt. Unmöglich für Dirigent Martin Brabbyns und die Musiker des DSO, im Tempodrom den Blick immer nur auf die Noten zu richten.

© Kai Bienert

Berliner Silvesterkonzerte: Vorsicht, Funkenflug

Klassik zum Jahresende mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester, der Staatskapelle und dem Deutschen Symphonie-Orchester

Die Silvesterkonzerte von Roncalli und dem Deutschen Symphonie- Orchester im Tempodrom sind immer wieder ein tolles Beispiel dafür, was man mit dem Dreiklang aus Offenheit, Improvisationskunst und Organisationstalent auf die Beine stellen kann. Schon die oft erzählte Ursprungsgeschichte von der Panne einer Doppelbuchung, die zwei völlig unterschiedliche Ensembles zwang, ihr Programm am selben Abend zusammenzuwerfen, steht dafür.

Aus der Not ist viel mehr als eine Tugend geworden: nämlich ein zauberhaftes Gesamtkunstwerk. Der sperrige wagnersche Begriff darf hier durchaus zum Einsatz kommen, auch wenn er dem filigranen, träumerischen Charakter der Show eigentlich komplett widerspricht. Das Beste beider Welten begegnet sich wie in einer chemischen Verbindung – um sich gegenseitig zu verstärken statt auszulöschen. Der Magie, die daraus entspringt, gibt man sich gerne hin.

Klassik trifft Zirkus

Nur wenige Tage hat Orchesterdirektor Alexander Steinbeis Zeit, nach Sichtung des neuen Roncalli-Programms (das normalerweise von einer Big Band begleitet wird) Stücke im klassischen Repertoire zu finden, die dem Charakter der Zirkusnummern entsprechen. Wenn Sandor Donnert seine Araber-Hengste in der Manage tänzeln lässt und dazu Bizets Intermezzo aus der Carmen-Suite Nr.1 oder Brahms fünfter Ungarischer Tanz erklingen – dann könnte man schlichtweg der Illusion erliegen, Bizet und Brahms hätten ihre Musik nur für diese eine Szene geschrieben.

Aber Steinbeis zaubert auch spannende Raritäten aus der Wundertüte: Dmitri Kabalewskis Ouvertüre zu „Colas Breugnon“ etwa, vom DSO viel feingliedriger gespielt als von den Berliner Philharmonikern, die das Stück ebenfalls für Silvester ausgewählt hatten. Oder eine „Fête polonaise“ von Emmanuel Chabrier. Mit Martyn Brabbins am Pult ist das Orchester nach nur einem Probetag hervorragend in Form, kernig und griffig fließt der Sound aus den Lautsprechern, nur zu den Bässen ist er etwas zu gut.

Orchester wie Publikum spüren den Adrenalin-Rush

Der Schweizer Hochseilartist Freddy Nock turnt zu Strawinskys „Danse infernal“ aus dem „Feuervogel“ ohne Netz 20 Meter über den Musikern, teils auf Stelzen und mit verbundenen Augen? Kein Problem, sie sind trotzdem hoch konzentriert, präzise und leidenschaftlich, obwohl auch sie den gleichen Adrenalin-Rush wie das Publikum spüren müssen.

Auch da verstärkt sich etwas gegenseitig. Die Musik, man hört sie plötzlich mit noch viel wacheren Ohren. Solist Nicolas Altstaedt malträtiert hoch virtuos sein Instrument im „Allegro appassionato“ aus William Waltons Cellokonzert, hat aber auch kein Problem damit, in Paganinis „Moses-Fantasie“ zurückzustecken und die Aufmerksamkeit mit Elayne Kramer zu teilen, die scheinbar überhaupt keine Knochen im Körper besitzt und beim dritten Anlauf erfolgreich einen Pfeil in einen Luftballon schmettert – mit den Füßen, über dem Kopf. Ob sie absichtlich zwei Mal danebengeschossen hat, um die Spannung zu steigern? Es ist völlig egal, löst sich alles auf in einer heiteren Traumfantasie. Dass alle Beteiligten nach nur einer Stunde Ausruhen gleich wieder loslegen für eine zweite Show – es ist nicht das Einzige, was an diesem Nachmittag sprachlos macht. Udo Badelt

Bevor das Silvesterkonzert beginnt, rüttelt Daniel Barenboim höchstpersönlich am Dirigentenpult. Alles soll sitzen, alles muss passen. Die Staatskapelle hat im Schillertheater Lisa Batiashvili zu Gast, die mit ihrem kernigen und blitzgescheiten Geigenspiel das Publikum erobert. Bei Tschaikowsyks Violinkonzert weiß man nicht so recht, wer hier wen nach vorne peitscht: Schon der erste Satz ist eine Offenbarung in puncto ungezügelter Leidenschaft und ungebremster Musikalität. Rasant, rhythmisch durchdacht und weltschmerz-erprobt holt die Georgierin jede Nuance aus diesem ungestümen, komplexen Werk. Auch die beiden letzten Sätze gelingen fabelhaft, jeder Takt klingt wie ein irrsinniges Ringen um Leben und Tod.

Barenboim weiß sich anzupassen: Er tanzt, gestikuliert und wirkt wie ein entfesselter Dompteur im Rausch. Im Zustand der Ekstase haucht er seinem Orchester eine derart wilde Dynamik ein, dass man sich als Zuhörer an den Sitz klammern will.

"Der Nussknacker": Original und mit Jazz-Feeling

Der zweite Teil wirkt dann ganz anders: unbeschwert, leichtfüßig und viel weniger emotionsgeladen. Neben Barenboims Musikern nimmt das Till-Brönner- Orchestra Platz.

Während die Staatskappelle die Originalversion von Tschaikowskys „Nussknacker“ spielt, antwortet das Jazz-Ensemble jeweils mit Bearbeitungen der Nummern von Duke Ellington und Billy Trayhorn. Die Rechnung geht auf: Beim Dialog aus Ballettsuite und swinghafter Improvisation werden Barenboims Tanzschritte gewagter, seine Zuckungen stärker.

Man sieht, wie sehr er das Experiment genießt. So wird aus Tchaikowskys Marsch ein Märschlein und aus dem Tanz der Zuckerfee ein lockeres Tänzchen. Als dann noch Till Brönner auf der Trompete ein Abschieds-Solo spielt, ist man mit 2016 einen Augenblick lang versöhnt. Tomasz Kurianowicz

Janowski verabschiedet sich vom RSB

Unter der Überschrift „...und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen...“ findet sich auf Seite 17 des Programmhefts eine auf den ersten Blick absenderlose Botschaft. Es ist ein Dank an Marek Janowski für 15 Jahre an der Spitze des Berliner Rundfunk-Sinfonieorchesters, ausgesprochen „mit aller Wärme“. Bei genauer Lektüre entpuppen sich all jene Menschen als Verfasser des Textes, die in dieser Ära „eng mit ihm zusammenarbeiten durften“, und die nun, da sich die Wege trennen, noch einmal zum Ausdruck bringen möchten, wie oft der Mensch wie der Maestro Janowski sie „berührt“ habe, wie viel sie durch den künstlerischen Kontakt mit ihm auch über sich selber lernen konnten.

Eigentlich hatte sich der derart Geehrte zum Abschied Gefühlsbekundungen jedweder Art verbeten – weil „das Unspektakuläre, das Unprätentiöse überhaupt“ nun einmal „zu seiner Persönlichkeit und seinem Künstlertum gehören“, wie es im Text heißt. Also wird im ausverkauften Konzerthaus the same procedure as every year durchexerziert, Beethovens Neunte nämlich, deren Monumentalität sich Marek Janowski und das RSB seit 2002 zu jedem Silvesterfest aufs Neue gestellt haben.

Der Dirigent strebt nach einer quasi objektiven Schönheit

In der Frage, ob diese Sinfonie den letzten, höchsten Gipfelpunkt der Wiener Klassik darstelle oder doch eher eine Ouvertüre zum Zeitalter der Romantik sei, vertritt der Dirigent einen klaren Standpunkt: Die Struktur der Partitur interessiert ihn mehr als die emotionalen Abgründe, die sich hier auch entdecken lassen. Bei Janowski ist das Werk „tönend bewegte Form“, nach dem Diktum von Eduard Hanslick, dem Musikkritik-Papst des 19. Jahrhunderts. Da kann es im Kopfsatz aber durchaus auch mal kraftvoll-knorrig zugehen, wenn der Herzschlag der Pauke über viele, viele Takte dominiert, da kann das molto vivace so sehr vorwärts drängen, dass darüber Beethovens raffiniertes Spiel mit schweren und leichten, lauten und leisen Passagen weitgehend nivelliert wird.

Der anschließende langsame Satz jedoch ist Marek Janowski der liebste, eine Hymne der Humanität, mehr noch als das auftrumpfende Chorfinale. Doch weil der Dirigent auch hier Gefühligkeit um jeden Preis vermeiden will, eine quasi objektive Schönheit anstrebt, berührt der große Gesang kaum, bleibt marmorhaft.

Merkwürdig, dass jegliche Bonbonpapierknisterei und all die enervierenden Husteneruptionen wie auf Kommando verstummen, sobald in den Celli und Kontrabässen erstmals das „Götterfunken“- Thema aufscheint. Jetzt kommt das, was alle im Saal mitsingen können. Das Orchester mobilisiert letzte Reserven, die nur mäßig überzeugenden Solisten werden gnädig vom Rundfunkchor Berlin überstrahlt – mit einem gleißenden Jubelton, den das vom Wiedererkennungseffekt berauschte Publikum anschließend durch phonstarke Begeisterung noch zu übertreffen sucht. Frederik Hanssen

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