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Staatsoper Pelleas

© Monika Rittershaus

Berliner Staatsoper: Das Glasglockenspiel

Simon Rattle debütiert an der Berliner Staatsoper mit der Wiederaufnahme von Debussys "Pelléas". Er geht die Sache vergleichsweise diesseitig an, zeichnet theatralische Spannungskurven, lässt Maeterlincks Eifersuchtsdrama am Ende in den beißenden gleißenden Fanfaren des Blechs geradezu in Stichflammen aufgehen.

Ein Abend wie ein Kosten von lang verbotenen süßen Früchten, wie eine kleine heimliche Flucht. Plötzlich erstarken die matten Sinne und Glieder, beginnen die Gedanken neu zu fliegen. Simon Rattle als Debütant am Pult der Staatskapelle, das atmet fast die Euphorie und Neugierde seiner frühen Jahre bei den Philharmonikern: Musiker, die sich gegenseitig übertreffen an Agilität, Fantasie und Schönheitslust – und ein Dirigent, der aus dem Staunen über solche Farbenpracht, über so viel Charakter gar nicht mehr herauskommt. Paradox, aber offenkundig wahr: Genau das, was sich unter Rattle bei den Philharmonikern – warum auch immer – nicht hat halten lassen, genießt der Brite hier in vollen Zügen. Die Körperhaftigkeit des Musizierens, die funkelnde Tiefe des Klangs, das Pulsieren des dramatischen Ausdrucks und überhaupt: das intuitiv-lebendige, niemals nur funktionelle Gespür eines Grabenorchesters.

Sir Simons Ruf als Operndirigent hatte zuletzt mit Wagners „Walküre“ bei den Salzburger Osterfestspielen mächtig gelitten (die österreichische Presse jedenfalls war einhellig dieser Meinung). Jetzt, im freundschaftlichen Bäumchen-wechsle-dich-Spiel mit Daniel Barenboim, scheint er allen Erwartungsdruck, alle bärbeißig wirkende Routine, alles krampfige Gestaltenmüssen abzustreifen. Und natürlich ist Debussys „Pelléas et Mélisande“ – wie von Rattle vor zwei Jahren konzertant in der Philharmonie angedeutet – ein Stück, dessen symbolistische Verrätselungsstrategien und Delikatesse ihm mehr behagen als alles Wagnersche Weltwollen. Nicht zuletzt Debussy selbst hatte die Absicht, mit der epischen Erzählweise seiner Partitur, ihren Lichtwechseln, ihrer schwärenden Stille einen Gegenentwurf zur „lebensechten“ Ästhetik des von ihm einst heiß bewunderten Bayreuther Zauberers zu formulieren. Dabei mutet das Ganze zunächst weniger französisch-gespinstig an als sehnig, handfest. Auch scheint Rattle nicht daran gelegen, gleich mit den ersten tastenden Tönen die Glasglocke zu lupfen, unter der sich die katastrophisch auf den Figuren lastende Atmosphäre des Stücks zu einer Art mythischem Moder verdichtet hat (Cluytens und Ansermet waren Meister dieser Technik). Er geht die Sache vergleichsweise diesseitig an, zeichnet theatralische Spannungskurven, lässt Maeterlincks Eifersuchtsdrama um Mélisande und die Brüder Golaud und Pelléas am Ende in den beißenden gleißenden Fanfaren des Blechs geradezu in Stichflammen aufgehen.

Ein Höhepunkt: der Missbrauch des kleinen Yniold (großartig, eine flehende vox angelica: Andreas Mörwald von den Tölzer Knaben) durch den rasenden Golaud (Hanno Müller-Brachmann mit großer lyrischer Beteiligung, aber etwas teerigem Bariton) im dritten Akt. Aber auch der Brudermord, dem William Burdens blasser Pelléas zum Opfer fällt, oder die späte Einsicht König Arkels (Robert Lloyd mit berührender Altersemphase) greifen ans Herz. Marie-Nicole Lemieux’ Geneviève und Andreas Bauer als Hirte und Arzt vervollständigen das Bild eines herausragend einstudierten Ensembles.

Die Krone des Abends aber gebührt Magdalena Kozenás Mélisande. Selbst hochschwanger, agiert die Mezzosopranistin, als wäre sie seit 1991, dem Premierenjahr, in der strikten Geometrie von Ruth Berghaus’ zeichenseliger Inszenierung heimisch. Rollt bäuchlings halbe Weltkugeln herunter, erklimmt munter jene schwindelerregend steile Treppe, die im dritten Akt ihr langes Haar symbolisiert, verschwindet in diversen Versenkungen. Eine reife, vom Schicksal angefasste Frau und – unter ihrer merkwürdigen Alicein-Wonderland-Perücke – doch auch ein hingebungsvoll ans Gute, an die Liebe glaubendes Kind. Eine Stimme bei Weitem nicht so künstlich- ätherisch wie bei Victoria de Los Angeles oder Suzanne Danco, vielmehr brodelnd vital, bisweilen sogar ätzend, zornig, trotzig alle Lebensglut aushauchend.

Eine wie sie, so viel ist nach dreidreiviertel Stunden sicher, haben die Untoten dieser Welt ohnehin nicht verdient.

Wieder am 13., 20. und 23. April

Christine Lemke-Matwey

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