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Ringen um die Revolution. Szene aus „Zement“ von Heiner Müller, Regie führte der im vergangenen Oktober verstorbene Dimiter Gotscheff. Die Inszenierung des Münchner Residenztheaters wurde zum Theatertreffen eingeladen.

©  Armin Smailovic

Berliner Theatertreffen 2014: Berlin ohne Titel

Und München leuchtet: Die Jury des diesjährigen Theatertreffens hat ihre Auswahl verkündet. Sieger nach Punkten: Die bayrische Landeshauptstadt.

Yvonne Büdenhölzer bringt es unbarmherzig auf den Punkt: „München als neues Theaterberlin?“, fragt die Leiterin des Theatertreffens lächelnd in die Runde der versammelten Journalisten. Die haben soeben auf der Pressekonferenz vernommen, welches die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen des deutschsprachigen Raums sind, die im Mai im Haus der Berliner Festspiele für Freude oder Ärger, Diskussionen oder Lamento, Genuss oder Gähnen sorgen werden. Vier davon stammen aus München. Eine weitere Arbeit haben die dortigen Kammerspiele koproduziert. Totale Isar-Dominanz, wie man sie vom FC Bayern kennt. Fast unheimlich.

Berlin dagegen: Hertha-mäßig schwach vertreten, mit einer Inszenierung: Herbert Fritschs Oper „Ohne Titel Nr. 1“, die erst vor zwei Wochen an der Volksbühne Premiere feierte. Ein Ehrentreffer in letzter Sekunde. Und wenn man bedenkt, dass mit Matthias Lilienthal bald der beste Spielmacher der Stadt an die Maximilianstraße wechselt, kann einem zusätzlich angst und bange werden in Hinblick auf die ewige Konkurrenz zwischen bajuwarischer „Mia san mir“-Behauptung und Berliner Gernegroß-Phantasien.

Aber genug der Kassandra-Komplexe. Es gibt einen schwachen Trost für Berliner Bühnenpatrioten. Eine der vier eingeladenen Münchner Inszenierungen – „Reise ans Ende der Nacht“ von Louis-Ferdinand Céline – verantwortet Frank Castorf. Dessen Panzerkreuzer am Rosa-Luxemburg-Platz hat ja zuletzt eine spürbare Renaissance erlebt. 2012 gelang sogar das Theatertreffen-Triple (mit Vegard Vinge, René Pollesch und Herbert Fritsch). Der Hausherr selbst war allerdings zuletzt vor zehn Jahren eingeladen (2003 mit seinem Berliner Bulgakow „Der Meister und Margaritha“ sowie dem Zürcher O’Neill „Trauer muss Elektra tragen“). Jetzt bestätigt die Auswahl-Ehre, was auch eine Berliner Balzac-Inszenierung wie „La Cousine bette“ beweist: der 62-Jährige ist wieder obenauf, gestärkt in seinem zwischendrin verblassten Radikalinski-Ruf durch die Stahlgewitter-Euphorie 20-minütiger Buh-Orgien in Bayreuth, wo er im vergangenen Sommer den „Ring“ gestemmt hat. Wenn Castorf Reibung findet, wird er produktiv. Im Falle der „Reise ans Ende der Nacht“ kamen dem Vernehmen nach einige begünstigende Faktoren zusammen: das irritationsbereite Luxus-Milieu Münchens, ein auf bestem Volksbühnen-Niveau agierendes Ensemble. Und der Autor Céline, der in seinem nihilistisch hingekotzten Weltkriegsroman das Castorfsche Faible für zerrissene Lebensentwürfe bedient.

Die Festspiele werden Dimiter Gotscheff einen Schwerpunkt widmen

Die siebenköpfige Kritikerjury, die für die Theatertreffen-Auswahl verantwortlich zeichnet – in diesem Jahr: Barbara Burckhardt, Anke Dürr, Peter Laudenbach, Christoph Leibold, Daniele Muscionico, Bernd Noack und Andreas Wilink – hat reisefreudig wie gewohnt 395 Inszenierungen in 71 Städten des deutschsprachigen Raums gesichtet. Und ein vielversprechendes Programm zusammengestellt, das muss man ihr lassen.

In vielerlei Hinsicht kein Weg vorbei führte an „Zement“ von Heiner Müller, der letzten Inszenierung von Dimiter Gotscheff, ebenfalls am Residenztheater entstanden. Ein halbes Jahr vor dem Tod des bulgarischen Theatermeisters, der hier noch einmal auf der Höhe der Kunst mit seinem maßgeblichen dramatischen Sparringspartner ringt. Und unnachgiebig die Revolutionsfähigkeit der Gegenwart befragt. Die Festspiele werden dem Regisseur verdientermaßen einen „Focus Gotscheff“ widmen.

Auch die Arbeiten, die von der anderen Münchner Nobelstraßenseite kommen, lassen Bestes hoffen. An den Kammerspielen hat Alain Platel mit „Tauberbach“ einen entgrenzten Tanz auf der Müllkippe entfesselt. Der flämische Choreograf erzählt die Geschichte einer schizophrenen Frau, begleitet von einem Chor aus Gehörlosen, die Bach singen. Und die junge Regisseurin Susanne Kennedy, Jahrgang 1977, macht an den Kammerspielen aus Marieluise Fleißers „Fegefeuer in Ingolstadt“ nach Jury-Angaben einen „Fiebertraum mit Zombies“ im Vollplayback. Klingt verheißungsvoll.

Welche Uraufführung hätte sich aufgedrängt?

Kennedy zählt mit Regisseur Robert Borgmann zu den zwei Theatertreffen-Debütanten, die unter den Regieveteranen die Nachwuchspower des Betriebs hochhalten. Wo man schon vergebens nach Gegenwartsdramatikern im Programm sucht. Aber bitte, kein Vorwurf an die Jury. Was hätte sich aus den unablässig stampfenden Fabriken der Uraufführungslieferanten schon aufgedrängt?

Robert Borgmann, auch am Maxim Gorki Theater mit schönen Arbeiten aufgefallen, ist mit seiner „Onkel Wanja“-Bearbeitung aus Stuttgart eingeladen. Was Armin Petras freuen dürfte, der als Intendant im Sommer 2013 seine Theaterbaustelle im Schwäbischen eröffnet hat. Zumal die übrigen Neustart-Kandidaten leer ausgegangen sind: keine Einladung für Stefan Bachmanns Kölner und Karin Beiers Hamburger Schauspielhaus, auch nicht für Shermin Langhoffs Gorki. Kann ja alles noch kommen. Residenztheater-Intendant Martin Kusej hat auch drei Spielzeiten auf die Theatertreffen-Weihe seines Hauses warten müssen. Und noch länger musste sich der Burgtheater- Chef Matthias Hartmann gedulden, endlich eine eigene Inszenierung in Berlin präsentieren zu können. Jetzt ist er mit dem Projekt „Die letzten Zeugen“ eingeladen, das er zusammen mit Doron Rabinovici an der Burg herausgebracht hat. Sechs Überlebende des Holocaust, zwischen 80 und 100 Jahre alt, sitzen schweigend auf der Bühne, während vier jüngere Schauspielerinnen und Schauspieler deren Lebensgeschichte vorlesen. Frei von „Betroffenheitsautomatik“, wie es im Votum heißt.

Das zwischendrin gern mal totgesagte, wenigstens als erneuerungsresistent geschmähte Stadttheater, es behauptet sich doch immer wieder als Garant für Kunst, die aus dem Rahmen fällt. Dafür steht auch das Zürcher Schauspiel, das wiederum gleich zweifach eingeladen ist. Mit Karin Henkels mehrbödigem Kleist- Verwirrspiel „Amphitryon und seine Doppelgänger“. Und mit der „Geschichte von Kaspar Hauser“, die Alvis Hermanis als beklemmendes Kinder-Marionetten- spiel aufzieht. Die Vielfalt von Ästhetiken, Sprachen und Produktionsweisen abzubilden, die am Theater nebeneinander möglich sind, war erkennbar der Jury-Anspruch. Er dürfte sich einlösen.

Nicht zuletzt mit „Situation Rooms“ von Rimini Protokoll. Die lassen in dieser Theaterinstallation die Zuschauer mit dem iPad ausgerüstet die Komplexität des modernen Krieges aus wechselnder Perspektive erleben. Ihre Experten des Alltags sind Vertreter des internationalen Waffenhandels, die am Flachbildschirm erlebten Schauplätze springen zwischen Rüstungsfachmesse und Feldlazarett. Eine großartige Arbeit, an der – fast hätten wir’s vergessen – als einer von vielen Koproduzenten das Berliner HAU beteiligt ist. Aber, großes Ach!, das ändert nichts an der Jury-Bilanz: München leuchtet.

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