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Türmerin von Treptow. Annett Gröschner hat ihren Schreibtisch im Wachturm aufgestellt.

© Mike Wolff

Berliner Türme (4): Grenzwachturm Schlesischer Busch: Abends riecht es nach Hasch und Fleisch

Aus einer Dichterklause im Grenzwachturm: Die Schriftstellerin Annett Gröschner erzählt von ihrem derzeitigen Arbeitsplatz.

Ein alter Mann schaut mit der Taschenlampe ins Innere eines Abfallbehälters und geht dann zum nächsten. Erst beim dritten greift er mit der Hand hinein und holt eine Schnapsflasche heraus, keine, für die sich Pfand einlösen ließe. Er hält sie gegen das Licht, dreht den Deckel ab, trinkt die Neige, stellt die nun leere Flasche fast behutsam zurück und bewegt sich zum nächsten Abfallbehälter. Von meinem Standpunkt in sieben Metern Höhe aus habe ich acht dieser Müllbehälter im Blick. Sie sind hoch frequentiert. Vor dem alten Mann waren schon mehrere andere auf Streifzug nach Pfandflaschen.

Der Schlesische Busch ist gut für einen Sommer in Berlin. Man ist mittendrin und doch abseits vom Geschehen, und es kostet nichts, hier zu sitzen. Auch das Grillen ist nicht verboten. Es gibt nackte Sonnenanbeter, die, jeder ein Fahrrad wie ein Haustier neben sich, den ganzen Tag auf der Wiese liegen, es gibt Großfamilien und junge Rucksacktouristen aus aller Welt, die unter Bäumen chillen, Hundebesitzer und einsame Männer auf Bänken, die den Arm um die Lehne wie um die Schulter einer Frau gelegt haben. Ein paar breitbeinig laufende Typen benutzen den Park als Gangsterlaufsteg. Gelegentlich schauen Dealer nach Kundschaft.

Mein Beobachten ist reine Schreibübung. Flanieren auf Papier.

Der gemeinnützige Flutgraben e.V., der gegenüber, neben dem Gelände der Arena, das Atelierhaus am Flutgraben betreibt, hat mich eingeladen, einen Monat im Grenzwachturm Schlesischer Busch zu arbeiten, was in meinem Fall heißt, ich habe meinen Schreibplatz temporär ins zweite Obergeschoss eines BT verlegt. Die Abkürzung steht für Beobachtungsturm. Es gab sie, je nach Höhe, als BT 6 oder BT 9. Genormte Typenbauten, die im Abstand von, je nach Beschaffenheit der Landschaft, 70 bis 500 Metern im Kontrollstreifen der Berliner Mauer standen. Über 200 Türme waren es am Ende des Grenzregimes. Der, auf dem ich mich befinde, war eine von 31 Führungsstellen, in denen die Signale der elektronischen Anlagen, des Grenzsignalzauns und der Fernmeldeleitungen zusammenliefen. In den Akten der Grenztruppen, die heute im Militärarchiv in Freiburg im Breisgau liegen, kann man nachlesen, dass jede Kontaktaufnahme, jede Handlung registriert wurde, die von West-Berliner Seite kam, so absurd sich die Einträge heute auch lesen mögen.

In den Akten des für diesen Abschnitt zuständigen Grenzregiments in Treptow hieß es beispielsweise: Harzer Straße, 10.00 Uhr:] Fahrer und Beifahrer des Bierautos mit dem Kennzeichen B-CL 51 bieten den Posten Bier an, „wenn ihr rüberkommt“. Lohmühlenbrücke, 18.50 Uhr:] Zwei Zöllner: „Einmal wird der Tag kommen, da wird es euch auch so gut gehen wie uns.“ Lohmühlenstraße, 12.59 Uhr:] Eine Familie aus der Nummer 58/59 winkt einer Frau auf Westberliner Seite zu. Wiener Brücke, 15.40-18.15 Uhr:] Eine ca. 20-jährige Frau ruft insgesamt vier Mal: „Komm rüber, du kannst mich mal.“ Görlitzer Bahndamm, 9.05 Uhr:] US-Soldaten machen mit ihren Pistolen Zielübungen auf Grenzposten und ihre Hunde.

Als diese Kontaktaufnahmen Ende der sechziger Jahre protokolliert wurden, stand der Führungsturm noch nicht. Als er zehn Jahre später errichtet wurde, war die Grenze schon so abgeschottet, dass kaum ein zur Flucht Entschlossener überhaupt bis zur Hinterlandmauer durchkam. Sie wurden meist schon im Vorfeld von der Volkspolizei und ihren dienstbaren Helfern in Zivil abgefangen. 200 Meter vom Führungsturm entfernt gab es damals den legendären Jazzkeller in der Puschkinallee. Wer nach Ende der Veranstaltung betrunken nach rechts ging, statt nach links, konnte die Nacht, wenn’s dumm kam, in Gewahrsam verbringen.

Der Verlauf der Hinterlandmauer ist noch heute am Übergang zwischen Eichenhain und Wiese zu sehen, die bis vor 25 Jahren ein mit Pestiziden behandelter geharkter Sandstreifen war. Vergleicht man den heutigen Park mit Fotos der Grenzanlagen an dieser Stelle, ist man erstaunt, wie schnell die Natur sich das Terrain zurückerobert hat.

Grenzwachturm Schlesischer Busch: Wer hier arbeiten will, wird oft gestört.

Luftiger Ausguck. Der Turm an der Puschkinallee ist einer von drei noch existierenden Mauertürmen in Berlin und der einzige, der kulturell genutzt wird.
Luftiger Ausguck. Der Turm an der Puschkinallee ist einer von drei noch existierenden Mauertürmen in Berlin und der einzige, der kulturell genutzt wird.

© Mike Wolff

Der Grenzwachturm Schlesischer Busch ist einer von drei noch existierenden Beobachtungstürmen aus Mauerzeiten auf Berliner Gebiet und der einzige, der kulturell genutzt wird. Das Programm wird seit 2005 vom Vorstand des Künstlerhauses Flutgraben verantwortet. In den Sommermonaten werden regelmäßig Künstlerinnen und Künstler eingeladen, sich am authentischen Ort mit der Produktion und Rezeption von Geschichtsbildern auseinanderzusetzen und den Raum nach seiner Beschaffenheit zu befragen. Anders als erwartet, fühle ich mich wohl in dem Turm, der mit seinen horizontalen Fensterbildern schon etwas von Bauhaus hat, auch wenn es heutzutage weder fließendes Wasser noch eine Toilette gibt.

Wer hier arbeiten will, wird oft gestört. Die schwere Eisentür macht jedes Klopfen zum Wummern, als stände das Oberkommando der Grenztruppen vor der Tür und forderte seinen Turm zurück. Meist sind es Menschen, die mal gucken wollen, wie es innen aussieht. Das geht aber nur im Rahmen einer Stadtführung.

Wenn ich zwei Etagen tiefer den Satz höre: „Dieser Turm hat fünf Etagen, einschließlich Keller und Dachetage“, ist mit der baldigen Ankunft von Mauertouristen in meinem Refugium zu rechnen. Der Stadtführer Rolf R. W. Strobel kommt seit sechs Jahren von April bis Oktober viermal die Woche auf seiner „Mauertour I“ mit einer Gruppe zur Besichtigung. Eine Stunde vorher schließt Willi Arndt die schwere Eisentür auf, er betreut das Bauwerk ehrenamtlich und ist seine gute Seele. Anders als Strobel, der mit unverkennbarem Schwarzwalddialekt die Berliner Verhältnisse im Kalten Krieg erklärt, ist Willi Berliner und seit seinem Wehrdienst an der innerdeutschen Grenze vertraut mit solchen Türmen.

Wenn die Gruppe in meiner Beobachtungsetage im zweiten Obergeschoss angelangt ist, ist Strobel schon beim Jahr 1989. „Dass dieser Turm noch existiert, haben wir einem Treptower zu verdanken, dem Liedermacher Kalle Winkler. Aufgrund seiner Texte hat er Auftrittsverbot bekommen, hat sich nicht dran gehalten und ist zu achtzehn Monaten Haft verurteilt worden. Nachdem er freigekauft worden war, hat er sich in West-Berlin der Hausbesetzerszene angeschlossen. Im März 1990 ist Kalle in den Turm eingebrochen und hat ihn besetzt. Die Grenzer haben ihm dann angeboten, den Turm zu kaufen. Für eine Mark hat er ihn erworben, hat einen Verein gegründet, der das ,Museum der verbotenen Kunst‘ betrieben hat, und den Turm unter Denkmalschutz stellen lassen. 1994 ist er leider ertrunken, der Verein hat noch eine Weile weitergemacht, bis der Treptower Bezirk den Turm übernommen und in den Originalzustand zurückversetzt hat.“ Die Touristen nicken, schauen sich um, fragen manchmal nach.

Wenn Rolf und Willi und die Mauertouristen wieder weg sind und die Sonne hinter den Pappeln am Flutgraben verschwindet, höre ich auf die Geräusche jenseits der Stille im Turm. Das Rascheln der Eichen, die der Straße dahinter den Namen gegeben haben, die Sirenen von Polizei und Rettungswagen, der von entfernten Ampeln getaktete Autolärm, die Vögel und die Wespen, später das Wummern der Bässe in den nahe gelegenen Clubs, Hundebellen, Pfiffe, Fahrradreifen auf Kies, das Prasseln der Grillfeuer, Flaschenklirren. Der Geruch nach Sonnencreme wird von dem nach gebratenem Fleisch und Hasch abgelöst. Am nächsten Morgen ist die Wiese von Müll übersät. Drei kleine Kinder durchstreifen den Park nach Pfandflaschen. Die Kleinste nimmt noch nicht wahr, dass es sich bei dem, was sie da tun, um Arbeit handelt. Mit einer Wimpelkette, die sie aus dem großen Müllcontainer am Rand der Liegewiese gezogen hat, dreht sie völlig selbstvergessen Pirouetten auf dem Rasen, bis ihre große Schwester sie zur Ordnung ruft.

Die Schriftstellerin und Journalistin Annett Gröschner, Jahrgang 1964, verbringt gerade ein vierwöchiges Aufenthaltsstipendium auf dem Grenzwachturm Schlesischer Busch, Puschkinallee, Treptow. Eine Turmbesichtigung ist nur im Rahmen einer Stadtführung möglich, Infos unter: www.erlebnis-touren-treptow.de.

Annett Gröschner

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